Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
genau. Wir haben vergessen, die Tage zu zählen, seitdem die Belagerung ihren Anfang genommen hat und sie uns in der Zisterne untergebracht haben. Lange jedenfalls.« Er seufzte, das schwere Ausatmen eines alten Mannes. »Es wundert mich nicht, dass ihr den Namen eures Dorfes vergessen habt. Seitdem ich hier unten bin, fällt es mir immer schwerer, mich an mein Zuhause zu erinnern. Ich war ein Fischer, wie mein Vater, und wie der vor ihm. Die Maugrim haben beide geholt. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig verstecken, bis die Feurigen Schlangen mich fanden und herbrachten. Jetzt weiß ich an manchen Tagen nicht einmal mehr genau, wie mein Vater aussah.« Glabra war stehengeblieben. Er fuhr sich geistesabwesend mit einer Hand über sein leichenblasses Gesicht, und Enris war sich für einen Moment sicher, dass der Mann zu weinen anfangen würde. Neria betrachtete ihn eindringlich, sagte aber nichts. Hinter ihnen drängte neugierig der Pulk der Flüchtlinge heran. Im Schein der Fackeln an den Wänden schimmerte eine Vielzahl von bleichen Gesichtern, die ihn anstarrten. Zaghafte Hände wie die von Blinden, die ihre Eindrücke mit den Fingern gewannen, berührten seine Schultern, betasteten ihn. Einige versuchten auch Neria zu berühren, aber sie schüttelte die Hände ab und blickte so streng drein, dass die Menge zurückwich.
»Lasst den Neuen ein wenig Raum zum Atmen!«, rief Glabra. Er wandte sich den beiden zu. »Verzeiht unser schlechtes Benehmen, aber wir haben schon länger keine Nachrichten mehr von außerhalb der Stadt gehört. Alle hier brennen vor Neugier, was ihr uns vom Stand der Belagerung erzählen könnt.«
»Ist es wahr, dass alles Land um Mehanúr herum verwüstet ist?«, fragte eine Frau mittleren Alters, die sich nah an Enris und Neria herangewagt hatte. Ihre Stimme zitterte, als könne sie es nicht erwarten, die befürchtete schlechte Nachricht zu hören.
»Stimmt es, dass Mehanúr nicht mehr zu halten ist?«, wollte eine andere Frau wissen. »Ich habe von den Wachen, die uns das Essen bringen, gehört, dass die Maugrim die Weiße Stadt bald stürmen werden.«
»Ich auch!«, platzte ein junger Mann heraus. »Und mir ist zugetragen worden, dass die Feurigen Schlangen uns dann nicht mehr beschützen werden. Sie wollen fliehen und uns diesen Ungeheuern überlassen.« Unruhiges Murmeln erklang, das schnell anschwoll. »Sagt uns, wisst ihr etwas darüber, was sie vorhaben?«, erklang die Stimme des Mannes über die Brandung an erregten Gesprächen hinweg, die er hervorgerufen hatte.
Enris schüttelte den Kopf. »Nein, wir wissen nicht, was die Serephin vorhaben.« Seine Antwort rief einiges Stirnrunzeln hervor. Zu spät fiel ihm auf, dass er nicht wie die anderen Flüchtlinge von »Feurigen Schlangen« geredet hatte, sondern den eigentlichen Namen jener Wesen verwendet hatte. Anscheinend war dies unter den Vorfahren seines Volkes in Galamar nicht üblich. Er versuchte, seinen Fehler wieder gutzumachen. »Aber ich glaube nicht, dass die Feurigen Schlangen uns im Stich lassen werden. Sie werden uns retten und die Maugrim ein für alle Mal besiegen, dessen bin ich mir gewiss.«
Die leisen Gespräche verstummten. Enris fühlte Erleichterung, dass er die Wogen der Aufregung ein wenig hatte glätten können. In Wirklichkeit war er bei weitem nicht so zuversichtlich. Allein schon die Tatsache, dass sie hier mit Alcarasán und Jahanila aufgetaucht waren, hatte den Lauf der Geschichte verändert. Um so wichtiger war es, dass diese Menschen keinesfalls erfuhren, woher sie tatsächlich kamen.
»Ihr sagtet, ihr würdet gerne etwas über den Stand der Belagerung erfahren«, sagte er. »Ist es so schwierig, an Neuigkeiten heranzukommen? Ich dachte, es stünde uns Temari jederzeit frei, die Zisterne zu verlassen.«
Erneut seufzte Glabra tief. »Die Feurigen Schlangen halten uns hier nicht fest. Aber die ständigen Angriffe auf die Stadt haben bei uns allen ihre Spuren hinterlassen. Hier, umgeben von Dutzenden Fuß dickem Fels fühlen wir uns sicher.«
Neria blickte bei diesen Worten zu Boden und brummte etwas Unverständliches in sich hinein, das aber jedenfalls nicht besonders schmeichelhaft klang. Enris trat ihr unbemerkt von den anderen auf den Fuß, und sie verstummte.
Glabra führte sie noch weiter durch das Flüchtlingslager in der aus dem Fels herausgeschlagenen Höhle. Der Ort war weitläufig, aber so überfüllt, dass er viel kleiner wirkte. Trotz der in die Decke gehauenen Luftabzugsschächte
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