Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
Erste, was er sah, war Ricónda, die sich von ihrem Platz erhoben und über Eigin gebeugt hatte. Der Junge blinzelte sie aus verquollenen Schlafaugen an.
»Er ist wach! Bei Indriga, er ist wirklich wach!« Schnell ergriff sie ihren Sohn und hob ihn aus seinem Bett. Sie drückte Eigin, der benommen seine Arme um ihren Hals schlang, an sich, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.
Auch Watanja war aufgesprungen. Der hünenhafte Krieger weinte, während er wieder und wieder unbeholfen das Haar seines Sohnes zerzauste. Er küsste seine Frau, dann seinen Sohn, dann wieder seine Frau und erneut den Jungen. Der Yasgürai wirbelte zu Pándaros herum, der gerade dabei war, sich mit einem Aufstöhnen aus seinem Versenkungssitz zu erheben.
»Das habt ihr beide großartig gemacht!«, donnerte er. Seine Wangen glänzten tränennass. »Unser Stamm wird für immer in eurer Schuld stehen.«
»Wir werden niemals vergessen, was ihr für uns getan habt«, fügte Tirianuk etwas leiser hinzu. »An den Herden unserer Callaban wird immer ein Platz für euch frei sein, solange ihr lebt.«
Pándaros verbeugte sich, wobei ihm ein stechender Schmerz durch den Rücken fuhr. Er hatte das Gefühl, dass alle Farben und Töne um ihn herum dreimal so grell wie gewöhnlich auf seine Sinne eindrangen und kämpfte mit dem Wunsch, vor dem Nomaden zurückzuweichen. Offenbar wirkte noch immer ein Rest der Droge, die in den Reisepilzen enthalten gewesen war, auf ihn ein.
»Es freut uns, dass wir euch helfen konnten.« Seine Stimme hörte sich rau und abgekämpft an. Er hoffte, dass Tirianuk und Watanja dies seiner Erschöpfung nach dem langen Aufenthalt in den Geistwelten zuschreiben würden. Er warf Deneb einen Blick zu, der ihn kurz erwiderte, bevor er ihm auswich und seine eingeschlafenen Beine massierte. Um sie herum lachten und scherzten die Bewohner des Callabs wie ausgelassene Kinder. Ihre Fröhlichkeit schnitt Pándaros ins Herz. Deneb und er waren wieder frei, ihre Reise fortzusetzen. Aber dieser Erfolg schmeckte schal, denn nur sie beide wussten, welchen Preis er tatsächlich gefordert hatte.
11
Ein breiter, rötlicher Lichtstreifen hatte dem blassen Horizont etwas Farbe aufs Gesicht gemalt. Enris öffnete blinzelnd seine schweren Augenlider. Es war ihm, als hingen Bleigewichte daran. Im schwachen Licht der Dämmerung sah er die weiße Haut seiner Hände. Mit einem Ruck fuhr er hoch.
Er sah an sich herab. Sein nackter Körper war schmutzig von Erde und an mehreren Stellen so blutig gekratzt, als ob er durch ein dichtes Dornengestrüpp gerannt wäre.
Neben ihm rührte sich Neria, der seine Bewegung trotz ihres tiefen Schlafs nicht entgangen war. Sie lag neben ihm im niedrigen Gras unter einem der mächtigen Bäume, die den Angilaard wie eine Krone bedeckten. Leise vor sich hin murmelnd drehte sie sich von einer auf die andere Seite, bevor sie ebenfalls die Augen aufschlug. Durch eine Strähne ihres dichten Haares warf sie ihm einen schlaftrunkenen Blick zu, bevor sich ihr Mund zu einem Lächeln formte, das Enris erwiderte. Ihre Hand tastete sich durch das Gras und fand seine.
Sie blieben eine Weile so liegen, reglos und einander betrachtend, als sähen sie sich zum ersten Mal, während der rötliche Streifen am Horizont weit jenseits des Belagerungsrings immer mehr an Breite zunahm und sich der leuchtende Rand einer der beiden Sonnen zu zeigen begann. Kaum ein Geräusch war in dem Wäldchen zu hören, nur das des Windes, der in den Blättern hoch über den Köpfen der beiden nackten Temari flüsterte. Auch in der Stadt etwas tiefer unter der Erhebung des Angilaard herrschte Stille.
Enris hielt es schließlich nicht mehr länger aus. Er beugte sich im Sitzen vor, strich Neria ihr schwarzes Haar aus dem Gesicht und küsste sie fest auf den Mund, der sich nach einem Moment des Zögerns bereitwillig öffnete. Er legte sich neben sie ins Gras, und sie liebten sich erneut, diesmal nicht in Tiergestalt. Als Wölfe waren sie dem Ruf ihres Blutes mit einer traumwandlerischen Sicherheit gefolgt, die sie nun nicht mehr besaßen. Stattdessen suchten ihre Finger und Münder einander, zunächst vorsichtig und tastend, doch bald mit zunehmendem Vertrauen ineinander. Neria führte Enris’ Hand zwischen ihre Schenkel, ihre war in sein dunkles Haar gekrallt, das beinahe so schwarz schimmerte wie ihres. Sie spürte sein Gewicht auf sich, angenehm schwer, ohne sie zu stark in ihren Bewegungen einzuschränken. Als er seine Finger bewegte, richtete sie
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