Runlandsaga - Feuer im Norden
Körper verschwunden ist. Rechts und links von ihm breiten sich riesige durchscheinende Schwingen aus, wie aus Wolkenfetzen geformt, Flughäute aus Luft. Mit Wucht trifft ihn die Erkenntnis: Sein Verstand teilt den Geist jenes gewaltigen Drachen, in dessen verzweifelten Kampf sie unfreiwillig hineingeraten sind. Er schwebt nicht über diesem Wald, er fliegt. Er ist nicht in der Lage, die Richtung oder Geschwindigkeit seines Fluges zu ändern. Sein Geist ist wie eingesperrt im Geist des Luftdrachens, aber er teilt dessen Empfindungen und Erinnerungen, als wären es seine.
Die kühle Luft des Frühlings im Norden Runlands fährt durch seinen wolkenartigen Drachenkörper. Nein, sie ist sein Körper, sein Verstand und sein Wesen, der raue Ostwind, der um die Steilklippen von Nilan heult und über die von Heidekraut und Ginster bewachsene Hochebene von Felgar weht. Sein Herz öffnet sich im Auf und Ab seiner Schwingen, die ihm über den Wald der aufgehenden Sonne entgegentragen.
Dies hier muss der Rote Wald sein. Enris hat ihn nie zuvor gesehen, und doch ist ihm, als kenne er jeden der Bäume und Sträucher, die ihn zu jenem riesigen Gebiet gemacht haben. Die Finlarbirken haben das zarte Grün ihrer ersten kleinen Blätter bereits wieder abgelegt und stehen in vollem Laub. Nun sind die Rotbuchen an der Reihe auszutreiben und das wogende Meer aus Ästen und Zweigen, das sich unter Enris erstreckt, mit ihren tiefen Farbschattierungen zu erfüllen. Sein Windhauch hat bereits um jeden dieser Baumriesen gespielt, die dem winzigsten Insekt wie dem größten Keiler Schutz und Nahrung bieten. Sein Atem half ihnen, sich zu vermehren. Er hat sie wachsen gesehen, kannte sie alle als Schösslinge und zuvor als Samen jener Bäume, die vor ihnen hier standen und längst im laubübersäten Boden verrottet sind. Er sandte ihnen den Regen, der sie gedeihen ließ. Seine Sturmhand fällte jene, die alt waren und dem Lauf aller Dinge folgen mussten, eine lange Linie des Lebens zurück bis in die Dämmerung der Zeit, als weder die Temari noch die Endarin in Runland lebten, als dieses Land jung war und in der Blüte seiner Schönheit stand, eine Welt in ihrem Frühling.
Doch es sind nicht nur Bäume und Sträucher, an deren Leben der Drache, durch dessen Augen Enris blickt, einen Anteil hat. Der vom Frühlingswind durchwehte Wald ist ein Zuhause für eine Vielzahl von Wesen, die in seinem Schutz hausen. Bilder von Tieren ziehen an ihm vorbei, so schnell, dass er sie kaum im Gedächtnis behalten kann, eine Schar Rehe im Dickicht, ein Schwarm Amseln, Kaninchen mit wachsamem Blick am Eingang ihres Baus und schließlich ein großer Wolf mit schneeweißem Fell auf einer mondbeschienenen Lichtung.
Jenes letzte Bild bleibt, ohne einem weiteren zu weichen. Der Wolf nimmt an Größe zu, bis er Enris‘ Geist völlig ausfüllt. Es ist, als versuche er ihm etwas mitzuteilen. Dann ist er verschwunden. Die Lichtung ist dem Inneren einer Hütte gewichen. Im Schein eines flackernden Feuers sieht Enris das Gesicht einer jungen Frau mit einem schmalen, bleichen Gesicht und langen, schwarzen Haaren, die ihr in dichten Strähnen ins Gesicht hängen, als hätte sie längere Zeit geschlafen und sich gerade erst von ihrer Bettstatt aufgerichtet. Ihre Augen sind anders als alle, die er jemals zuvor in seinem Leben gesehen hat. Sie leuchten in einem blutroten Ton, die ihn an dunklen Bernstein erinnern. Die fremde Frau hat sie weit geöffnet und starrt ihn direkt an.
Sie sieht mich!, durchfährt es ihn. Sie kann mich sehen.
Doch bevor es ihm möglich ist, sie anzusprechen, ertönt ein weithin hallender Knall, der ihn aus dem Bild herausreißt, als befände er sich am Ende einer ledernen Peitschenschnur, die zum nächsten Schlag ausgeholt wird. Er fühlt sich selbst wieder in seinem Körper, der weiterhin von Syrs Zauber gelähmt wird. Noch immer sind auch alle anderen an Bord der Suvare in ihren Bewegungen erstarrt, dazu verdammt, alles zu sehen und zu hören, was um sie herum geschieht, ohne Einfluss auf die Ereignisse nehmen zu können. Der letzte donnernde Blitzschlag muss den schützenden magischen Schild um das Schiff getroffen haben, denn er flackert noch stärker als zuvor, und seine Leuchtkraft hat merklich abgenommen.
Enris versucht, Arcad zu rufen, doch ein entsetzliches Brüllen lähmt seine Gedanken. Der Drache aus Luft bäumt sich mit weit geöffnetem Rachen auf. Seine Wolkenschwingen haben sich so weit ausgebreitet, dass sie zu einem Teil des
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