Runlandsaga - Feuer im Norden
sturmverhangenen Himmels geworden sind. Er ist bemüht, mit den Klauen die Angriffe der gleißenden Schlangen abzuwehren, die sich mit den Köpfen in seinen Bauch bohren, doch es sind zu viele. Sie rauben ihm die Kraft und zerschmettern seine Gestalt. Etwas Altes und Wunderschönes wird vor Enris‘ Augen getötet, ein Wesen, dessen einzigartiges Leben er für Momente geteilt hat.
Ich kann den Zauber nicht länger aufrechterhalten!, meldet sich Arcads verzweifelte Stimme in Enris‘ Geist. Der Schild wird gleich zerbersten. Es sei denn ...
Er verstummt, und Enris richtet seine Aufmerksamkeit auf den Endar neben sich. Plötzlich beginnt sich der geschnitzte Falkenkopf der Harfe, dessen Schnabel zu seinem unsichtbaren Schrei geöffnet ist, zu bewegen. Das schwarze Holz wird lebendig, die Saiten fließen ineinander. Das magische Instrument auf Arcads reglosem Schoß verwandelt sich in einen lebendigen Raubvogel mit pechschwarzen, glänzenden Federn.
Der Falke, der eben noch eine Harfe war, schießt in die Lüfte – das einzige lebendige Wesen im Inneren der leuchtenden Kugel, das nicht erstarrt ist. Wie ein Pfeil fliegt er am Mast der Suvare empor. Seine Schwingen breiten sich aus und nehmen an Größe zu, bis sie die Tjalk wie ein Baldachin überragen.
Ein weiterer Blitz trifft den schützenden Schild, sodass er aufflammt und dann dunkel wird. Sofort spürt Enris, wie der wütende Sturm um ihn herum an seinen Gliedern reißt. Der Drache aus Luft brüllt in seinem Todeskampf gegen die Schlangen so laut auf, dass es dem jungen Mann ins Herz schneidet. Mit einem hohen, klirrenden Geräusch zersplittert die von den Blitzen erschütterte Kugel.
Doch bevor der Wirbel alle von Bord der Tjalk fegen kann, wehen Enris unzählige pechschwarze Federn des riesigen Falken ins Gesicht, eine warme, dunkle Wolke, die auf das Schiff herabregnet, seinen Verstand einhüllt und das Heulen des Wirbels verschluckt. Alle Bilder um ihn herum ersticken. Wie aus weiter Ferne hört er die entsetzten Schreie der anderen. Er fühlt, wie die Suvare an Höhe verliert und ruckartig aus dem Sturm herausgezogen wird. Vor seinen Augen herrscht die Schwärze einer sternenlosen Nacht. Dennoch weiß er es so genau, als würde er es sehen, dass die Tjalk eingehüllt in einer Wolke aus schwarzen Falkenfedern dem Meer entgegengleitet, bis sie schließlich auf den unruhigen Wogen aufsetzt und von ihnen umfangen wird, als hätte sie niemals das Element des Wassers verlassen. Ihre Planken beginnen im Rollen der Wellen wieder vernehmlich zu knarren, und Enris spürt –
– wie die Lähmung allmählich aus seinen Gliedern wich. Seine Finger bewegten sich schwerfällig über das raue Tau aus gedrehtem Hanf, in das sie sich festgekrallt hatten. Nur die Dunkelheit vor seinen Augen wollte noch immer nicht weichen, aber es war nicht mehr die Finsternis der unzähligen Falkenfedern, sondern seine schweren Augenlider, die sich geschlossen hatten. Die Federn waren verschwunden, so unmittelbar, wie es sie herabgeweht hatte.
Sie waren dem Sturm entkommen, doch Enris fühlte keine Erleichterung, nur tödliche Erschöpfung und die dumpfe Bitterkeit eines Verlustes. Das Brausen des Wirbels war einer Stille gewichen, die in ihrer Endgültigkeit nur eines bedeuten konnte: Die gelben Schlangen hatten mit ihren Körpern aus gnadenlosen Blitzen den Luftdrachen vernichtet. Was Arcad ›den Wächter‹ genannt hatte, war ein Teil Runlands gewesen, eine lebendige Erinnerung an den Frühling dieser Welt, als diese jung gewesen war, die Wälder grenzenlos und unentdeckt, und als der Horizont, an dem die Sonne aufging, das hoffnungsvolle Versprechen ferner Länder gab, die niemand je zuvor betreten hatte.
All dies war mit dem Drachen der Luft verschwunden.
»Arcad«, murmelte er mühsam. Ihm war, als hätte er seit Tagen keinen Muskel mehr bewegt. Selbst zu sprechen fiel ihm schwer. »Ist ... ist alles in Ordnung mit dir?«
Aber der Endar antwortete weder, noch rührte er sich.
Sie töten den Wächter!, hallten stattdessen Arcads vorherige Worte durch seinen Geist. Es war dieser Satz, eine Erinnerung und gleichzeitig ein Vorbote noch schlimmeren Unheils, der Enris wie ein über ihm kreisender Schlachtfeldvogel begleitete, als ihn nun die Erschöpfung übermannte und seine Sinne ihn verließen.
17
Larnys‘ gelbe Augen folgten Neria aufmerksam, als sie hinter Sarn einen kaum sichtbaren Wildwechsel entlangschritt. Der Falke hatte es sich auf einem Eichenast bequem gemacht,
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