Runlandsaga - Feuer im Norden
starr entgegen, dann schien er sich wieder daran zu erinnern, was er in der Hand hielt, und setzte das Gefäß an den Mund.
Enris lief um die Theke herum und trat zu ihm. »Ist Arvid mit seiner Familie noch hier?«, herrschte er den Mann an.
Der Alte setzte den Krug mit nachdenklicher Miene ab. »Ich ... ich glaub, ... ich weiß es nicht«, lallte er schließlich. »Ich hab sie nicht mehr gesehen. Alle sind rausgerannt.«
Enris verdrehte die Augen. Was hielt er sich überhaupt mit diesem besoffenen Kerl auf? Der konnte ihm doch nichts sagen. Er musste selbst nachsehen.
Obwohl er sich schon halb der Tür zugewandt hatte, die in das obere Stockwerk führte, hielt er inne und drehte sich noch einmal zu dem Betrunkenen um. »Du solltest schnellstens von hier verschwinden! Wenn du hier bleibst, dann wirst du erschlagen, oder sie zünden dir das Haus über dem Kopf an. Kannst du aufstehen?« Er hielt ihm die Hand entgegen.
Der alte Mann winkte mit einer ärgerlichen Geste ab und nahm einen weiteren Schluck, bevor er Enris antwortete. »Ach was.« Auf einmal hörte er sich etwas verständlicher als zuvor an. »Lass den alten Rechan gefälligst bleiben, wo er sitzt! Ich hab mein ganzes Leben in Andostaan verbracht. Wenn ihr mich von hier fortschafft, wohin soll ich denn? In eine niedergebrannte Ruine? Bis sie die Stadt wieder aufgebaut haben, bin ich sowieso unter der Erde. Und an einem anderen Ort will ich meine letzten Tage nicht verbringen.«
Sein Mund wurde schmal wie ein Strich. Er blickte an Enris vorbei und schüttelte entschlossen seinen Kopf, ein widerspenstiger alter Mann, der bereits die Umrisse des Totenbootes aus den Nebeln auftauchen sah und wusste, dass es diesmal für ihn kam.
»Nein, Junge, ich bleibe, wo ich bin. Hier kann ich wenigstens Arvids Bier vernichten, bis ich umkomme. Es ist zwar dünn, aber besser als nichts. Wenn du mich fragst, nicht der schlechteste Platz für einen Abgang.«
Enris wollte etwas erwidern, doch kein Wort kam über seine Lippen, denn es gab nichts, was er dem Alten hätte sagen können. Wenn er sich noch länger bei ihm aufhielt, um ihn zur Flucht zu überzeugen, war es womöglich für sie beide zu spät. Wie ein Faustschlag überkam ihn die Erkenntnis, dass bestimmt noch viele andere Leute in der Stadt geblieben waren, weil sie genau wussten, dass sie keine Kraft mehr zu einer Flucht hatten, Bettlägerige, Gebrechliche, oder jene, die wie Rechan angesichts der entsetzlichen Bedrohung ihren Lebenswillen verloren hatten. Der Gedanke, dass all diese Unglücklichen gerade allein und verlassen in ihren Häusern auf den Tod warteten, während ihre Verwandten aus der Stadt flüchteten, war kaum auszuhalten. Enris fuhr sich mit seiner Hand über das Gesicht. Wie sollte er sich von dem Mann verabschieden? Mit einem »Lebwohl«? In der Lage, in der sich der Alte befand, war das geradezu lächerlich.
Er nickte ihm wortlos zu und ging, ohne nochmals einen Blick auf ihn zu werfen. Rechans gemurmelte Worte mit dem Krug an seinen Lippen konnte er nicht mehr hören.
»Ich hab‘s ihnen doch gesagt. Ay, verflucht, das hab ich! Sie hätten diesen Fremden nicht retten sollen! Was die See haben will, das muss man ihr lassen. Der Kerl hat uns das Unglück gebracht!«
Als Enris die Treppe zum oberen Stockwerk hinaufstieg, vernahm er Stimmen. Erleichtert beschleunigte er seine Schritte. Sie waren doch noch im Haus!
Gegenüber vom Treppenaufgang stand eine Tür offen. Arvid, der Enris‘ Schritte vernommen hatte, stürzte in den Flur, in seiner Hand einen schweren Knüppel, mit dem schon manche seiner betrunkenen Gäste Bekanntschaft gemacht hatten. Erleichtert senkte er seine Waffe, als er Enris erkannte. Sein Atem roch säuerlich nach Bier. »Ihr seid es ...«
Er ging in den Raum zurück und rief: »Enris ist da!«
Sofort erschien Themet im Türrahmen. Er sprang auf seinen Freund zu und umarmte ihn so heftig, dass dieser beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und rückwärts die Treppe hinuntergefallen wäre, wenn er sich nicht gerade noch am Geländer festgehalten hätte.
»Du bist doch gekommen!«, sagte er erleichtert. »Ich dachte, du wärst fort.«
»Unsinn«, murmelte Enris, immer noch voller Erleichterung, dass er den Jungen und seine Eltern rechtzeitig gefunden hatte. Während Themet ihn weiter umklammert hielt, trat er einen Schritt von der Treppe fort und strich ihm mit zitternder Hand über den Kopf. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich euch nicht allein lassen
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