Runlandsaga - Feuer im Norden
die »Shintar« gewesen war. Für einen kurzen Moment tauchte in seinem Geist das Bild jenes Schiffes auf, mit dem er im vergangenen Jahr seine Heimat verlassen hatte und an diesen Ort gekommen war – der Ort, an dem sein neues Leben hatte beginnen sollen, und der sich eben vor seinen Augen in einen grauenhaften Alptraum verwandelt hatte. Nun war er wieder dabei, ein Schiff zu betreten, um einer Stadt den Rücken zu kehren. Diesmal nicht aus Abenteuerlust oder Fernweh, sondern um seine nackte Haut zu retten.
Jene Tjalk, die am südlichsten Pier des Hafenbeckens vertäut war und bereits ihre Segel gesetzt hatte, musste die Suvare sein! Arvid, Rena und Themet rannten darauf zu. Enris hastete die Treppenstufen auf der anderen Seite der Mauer hinunter und folgte ihnen.
Als er einen kurzen Blick über seine Schulter zurück warf, sah er, wie eine Welle von Flüchtenden die Hafenmauer erstürmte. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters sprangen mit schreckensverzerrten Gesichtern die Treppen empor, drängten sich schreiend aus dem Weg, fielen über Stufen zu Boden, rappelten sich auf, wenn sie das Glück besaßen, von den Nachfolgenden nicht niedergetreten zu werden, und rannten weiter. Doch viele, die stürzten oder umgestoßen wurden, standen nicht mehr auf. Unzählige Füße trampelten schonungslos über sie hinweg. Ihre Schmerzensschreie gingen in dem Lärm unter, der zusammen mit der Masse der fliehenden Menschen über die Mauer und zum Hafenbecken drang. Enris sah ein kleines Mädchen, das von einer Frau die Treppe hinabgezerrt wurde. Die Kleine konnte nicht schnell genug mit der Erwachsenen Schritt halten, strauchelte und verschwand innerhalb weniger Momente unter den Beinen der vorwärts drängenden Menschen hinter ihr, die nicht einen Blick auf das Kind warfen, das sie eben zu Tode traten.
An einem der Piere wurden Fackeln geschwenkt. Auch dort lag ein Schiff vor Anker. Mehrere Männer am Ende des Holzstegs deuteten aufgeregt rufend und gestikulierend hinüber zu den Leuten, die über die Hafenmauer stürmte. Einer von ihnen bückte sich und löste mit hektischen Bewegungen das Tau, mit dem das Schiff festgemacht war. Gleichzeitig begannen ein paar Seeleute an Bord das Vorsegel zu hissen. Enris bezweifelte, ob das Schiff es rechtzeitig aus dem Hafen schaffen würde. Solange es nicht unter Segeln war, machte es auch keine Fahrt. Wenn die in Panik geratene Menge erst auf den Steg drängte, um sich Zugang zu dem Schiff zu verschaffen, würde an Flucht nicht mehr zu denken sein.
Cyrandith, gib, dass die Suvare den Anker schon gelichtet hat!, stieß er in Gedanken hervor, während er den letzten Pier erreichte. Themet drehte sich zu ihm um und winkte ihm, sich zu beeilen. Er nickte angestrengt und bot seine letzten Kräfte auf, die drei einzuholen.
Am Ende des Stegs standen mehrere Männer mit brennenden Fackeln in den Händen. Unter ihnen erkannte er Arcad und den Hauptmann der Stadtwache. Sie winkten heftig, als wollten sie die Ankommenden zu noch größerer Eile anfeuern, und Corrya rief Enris etwas entgegen, was dieser nicht verstand. Trotz der Bedrohung, die dem jungen Mann dicht auf den Fersen war, spülte eine Welle von Erleichterung über ihn hinweg, allein durch den Anblick des kleinen Elfen. Arcad hatte es geschafft, sich hierher durchzuschlagen!
Arvid, Rena und ihr Junge hielten bei der Gruppe am Ende des Stegs an. Der Gastwirt schwankte und rang keuchend nach Atem. Rena hatte sich bereits umgewandt, um mit offenem Mund und starren Zügen die Menge zu beobachten, die in einiger Entfernung über den Pier stürmte. Jenseits der Mauer standen die Dächer der Häuser um den Hafenvorplatz weithin sichtbar in Flammen.
»Du hast es tatsächlich geschafft!«, rief Corrya, als Enris bei ihm und den anderen ankam. Seine dunklen Augen blickten diesmal alles andere als finster. Er war offensichtlich erfreut, den jungen Mann zu sehen. »Sind noch andere aus der Halle herausgekommen?«
Enris antwortete nicht, sondern wandte sich sofort an Arcad. »Wo ist Mirka? Hat er ...«
»Enris!«, unterbrach ihn ein Schrei, noch bevor er zu Ende sprechen konnte. Er hob seinen Kopf. Mirkas Haare leuchteten im Licht der Bordlaterne, die neben ihm hing. Er hatte sich so weit über die Reling gebeugt, dass er in Gefahr schwebte, über Bord zu fallen und winkte wild. »Ich bin hier!«
Arcad legte Enris eine Hand auf die Schulter. »Du wolltest beide Kinder sicher an Bord bringen, und das hast du auch getan. Margon wäre
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