Runlandsaga - Feuer im Norden
Zeit auch erneut fortschreiten, so lag doch das Ende ihres Daseins vor ihr, eine steile Klippe im sich zu ihren Füßen erhebenden dichten Nebel. Während dieser letzten Augenblicke blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als sich selbst dabei zu beobachten, wie dieser kraftlose Körper allmählich vornüberkippte und in die Tiefe stürzte. Gleich würde die Wirrnis, in der ihr Leben geendet hatte, vorbei sein.
Etwas rüttelte an ihrem Arm. »Nicht einschlafen, Mädchen!«
Wieder diese flüsternde, fordernde Stimme. Wie um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, klatschte ihr eine Hand hart ins Gesicht. Der plötzliche Schmerz stieß sie von der Klippe zurück und vertrieb den Nebel.
Sie schnappte hustend nach Luft, doch sofort wurde ihr der Mund zugehalten, sodass sie zwar weiter hustete, aber das Geräusch nun gedämpft erklang.
»Nicht so laut! Er kann uns hören«, flüsterte die Stimme.
Nerias Augenlider flatterten und öffneten sich. Um sie herum herrschte kaum größere Helligkeit als in dem Dämmerzustand, in dessen Gewalt sie sich eben noch befunden hatte. In dem trüben Licht zeichneten sich dicht vor ihr die Umrisse eines Kopfes ab. Das unterdrückte Husten ließ ihre Augen tränen. Der über sie gebeugte Kopf begann sich zu verdoppeln und zu verschwimmen, sodass sie mehrmals blinzeln musste, um wieder klar zu sehen.
Jetzt erst, als sie erkannte, dass es das Gesicht einer alter Frau war, bemerkte Neria die feuchte Kälte und Härte des Untergrundes, auf dem sie ausgestreckt lag. Er fühlte sich wie ein Block aus Stein an.
»Na endlich.« Die Alte seufzte erleichtert. Sie trug eine dunkle Felljacke. Im Gegensatz zu Neria hatte sie kein Kleid an, sondern eine weite Hose. Ein dichter Kranz von weißen Haaren schimmerte geisterhaft um ihren Kopf. Ihre Augen musterten sie unter hängenden Lidern.
»Ich dachte schon, es wäre zu spät gewesen. Du warst so kalt wie Eis. Hier, trink das.«
»Was ... wer seid Ihr?«, fragte Neria mit schleppender Zunge. Sie versuchte, ihren Kopf zu heben, um sich umzusehen, doch sie fühlte sich viel zu schwach, um ihn auch nur einen Zoll breit in die Höhe zu bekommen. Aber sie erkannte hinter der Frau undeutlich etwas, das wie Reihen von übereinander gestapelten flachen Steinen aussah, und sie konnte keinen Wind auf ihrem Gesicht fühlen. Sie musste sich im Inneren eines Gebäudes befinden, zusammen mit einer Frau. Einer Menschenfrau! Noch nie hatte sie mit jemandem aus diesem Volk gesprochen. Bisher war sie nur ein einziges Mal einem Menschen begegnet, und ihn hatte sie getötet.
»Ich heiße Sarn. Aber wir haben keine Zeit für lange Vorstellungen. Er wird gleich zurückkommen.«
Die Alte wandte sich schnell um, bevor sie sich wieder über Neria beugte und ihr eine flache Flasche an den Mund hielt, die mit dunkelbraunem Leder überzogen war. »Nicht zuviel auf einmal«, warnte sie. »Nur einen Schluck, das ist schon genug.«
Neria ließ etwas von dem Inhalt der Flasche ihre Kehle hinunterlaufen und riss ihre Augen weit auf. Die Flüssigkeit brannte wie Feuer in ihrem Hals. Ein erneuter Hustenreiz schüttelte ihren Körper, aber wieder hatte die Alte, die sich Sarn nannte, flink ihre faltige Hand auf den Mund der jungen Frau gepresst, um deren keuchende Geräusche zu unterdrücken.
»Verträgst ja gar nichts, Kleine.«
Gedämpftes Husten war die Antwort. Schließlich zog Sarn ihre Hand, die nach frischer Erde und Tierfett roch, wieder zurück.
Neria hätte die Flüssigkeit wieder herausgewürgt, wenn sie die Kraft dazu aufgebracht hätte. Das Gebräu schmeckte, als hätte jemand einen Absud aus bitterem Wermut mit Branntwein gemischt. Die Voron kannten diese Form des Alkohols von den wenigen Begegnungen mit den Wildlandmenschen, wenn sie ihn auch nicht eigenhändig herstellten. Sie selbst hatten niemals etwas Stärkeres angesetzt als Met.
Angestrengt rollte Neria etwas Spucke in ihrem Mund herum und schluckte sie. Der bittere Geschmack in ihrer Kehle ließ sich dadurch nicht vertreiben. Doch dann bemerkte sie, dass ihr Bauch angenehm warm zu brennen begann. Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis fiel ihr auf, wie eisig kalt ihr restlicher Körper war. Aber die Wärme breitete sich schnell aus, wenn ihr auch im Augenblick noch bei jedem Wort die Zähne unwillkürlich und hart aufeinanderschlugen. »Was ... was war das?«
»In Flirin eingelegte Kräuter«, brummte Sarn und steckte die Flasche in eine der Taschen ihrer dreckverschmierten Hose. Neria sah, dass die
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