Runlandsaga - Sturm der Serephin
sodass er an Thaja, Margon und diesem Endar vorbei die ganze Treppe hinunterfiele, auf jeder der steinernen Stufen hart aufschlagend und Blut verspritzend, bis sein Körper mit gebrochenem Genick und hässlich verdrehtem Kopf am Eingang des Turms zum Liegen kommen würde.
Doch nichts geschah. Die blauen Augen ruhten in seinem Nacken, aber sie warfen ihn nicht von den Füßen wie zuvor Margon im Turmzimmer. Stufe für Stufe ging Enris weiter hinter Thaja die Treppe hinab und hörte die Stiefel des Unbekannten hinter sich auf den Steinen.
Lähmende Ohnmacht presste die Muskeln seines Bauches hart zusammen, bis sie bei jedem Schritt schmerzten. Als er noch in Tyrzar im Haus seiner Familie gelebt hatte, war er mehr als einmal im Keller über ihren Kater Mato gestolpert, wenn der gerade wieder einmal mit einer Maus spielte, die er gefangen hatte. Im Halbdunkel zwischen den Regalen kauernd, den Geruch von Winteräpfeln und Zwiebeln in der Nase, hatte er Mato beobachtet, wie dieser seine Beute über den Boden rollte und sie dabei immer wieder kurz losließ, weil er scheinbar das Interesse an ihr verlor, nur um sie sofort wieder mit der Pfote zu sich zu ziehen, wenn sie glaubte, entkommen zu können. Der Maus nutzte nicht einmal, sich tot zu stellen. Mato war geduldig. Seine grünen, weit offenen Augen neugierig auf seinen Fang gerichtet, hockte er über sie gebeugt und wartete auf ein verräterisches Zucken, um sein Spiel erneut zu beginnen.
Während Enris vor dem Fremden, der sie alle in seiner Gewalt hatte, die Wendeltreppe hinabstieg, erinnerte er sich an den alten Kater, seine weit aufgerissene Augen, wach und aufmerksam, und an dessen grausames Spiel. Für diesen Unbekannten waren sie alle wie Mäuse, die er gefangen hatte. Auch wenn sie sich vorläufig frei bewegen konnten, gehörte dies doch nur zu dem Spiel. Am Ende würde er sie alle töten, so wie Mato stets irgendwann des Spielens überdrüssig geworden war. Doch mit jedem Schritt, den Enris weiter die Treppe hinunterging, schwand sein Gefühl der Angst und wurde von einer heftigen Woge der Wut verdrängt. Bitterer Zorn durchströmte ihn in einem Ausmaß, wie er es selten zuvor verspürt hatte – Zorn auf den Fremden, der sein Leben und das der anderen bedrohte, Zorn darauf, wie ein Schaf herumgeführt zu werden und sich nicht dagegen wehren zu können. Seine Fäuste ballten sich beim Gehen. Mit einem Mal erkannte er, dass er diesen Zorn weiter schüren musste. Er durfte sich nicht in sein Schicksal ergeben! Er würde es nicht zulassen, von diesem Kerl umgebracht zu werden! Doch dazu musste er weiter wütend bleiben. Die Wut auf diesen Unbekannten, der sie alle bedrohte, hielt seine Angst wenigstens für eine Weile im Zaum und vertrieb das lähmende Gefühl der Ohnmacht. Die Wut sagte ihm, dass er noch lebendig war und er die Augen offen halten musste, um eine Möglichkeit zu erspähen, das Blatt zu wenden.
Mittlerweile hatten sie den Eingang zur Schwarzen Nadel erreicht. Margon, Thaja und Arcad wandten sich der Bodenklappe zu, die in den Keller hinabführte. Enris nahm die letzten Stufen der Treppe. Sein Blick fiel auf die offene Eingangstür. Im Innenhof standen ein paar Männer mit zwei Kindern zwischen sich, die Rücken zu ihnen gewandt. Den kleineren der beiden Jungen erkannte er sofort: Themet! Enris‘ Mund war mit einem Mal so staubtrocken, dass ihn das Schlucken schmerzte.
Ranár schritt an ihm vorbei zum Eingang.
»Sareth! Komm her!«
Enris zuckte bei dem Namen zusammen. Konnte es noch schlimmer kommen?
Der Angerufene sagte etwas zu dem Mann neben ihm, der nickte und den Enris als das Narbengesicht wieder erkannte, das sich in der Lagerhalle seine Pfeife angezündet hatte. Dann lief Sareth mit laut im Hof widerhallenden Schritten zum Eingang des Turms. Seine Miene hellte sich auf, als er ins Innere trat und seine Augen auf den jungen Mann fielen, der ihm am Vortag entkommen war.
»Du!«
Er ging auf Enris zu. Blitzschnell schoss seine Faust vor und traf Enris’ linkes Auge, ohne dass dieser hätte ausweichen können. Enris schrie auf und taumelte zurück, wobei er auf die ersten Stufen der Wendeltreppe fiel. Er krümmte sich stöhnend zusammen. Eine Hand presste er auf sein Auge, die andere tastete wild nach einem Halt. Margon und Thaja blickten Sareth erschrocken an, während Arcad keine Miene verzog.
»Lass ihn gefälligst in Ruhe!«, rief Thaja und ging einen Schritt auf Sareth zu, bevor ihr Mann sie daran hindern konnte. Sareth wirbelte
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