Runlandsaga - Sturm der Serephin
brauchte er sie.
Seine Rechte schloss sich um den Griff eines Dolches. Er fühlte das kühle, glatte Leder, mit dem dieser umwickelt war, ein wenig schlüpfrig von dem Öl, mit dem er es gepflegt hatte. Als er noch ein Mensch gewesen war, hatte er solche Kleinigkeiten selten bemerkt. Er konnte sich an dieses Leben nur noch wie an das eines Fremden erinnern, aber er musste durch den Tag gelaufen sein wie ein Blinder.
Jetzt war dies anders. Jetzt donnerten jeden Moment Empfindungen auf ihn ein wie Gewitterstürme, und er genoss es. Es schien keinen noch so winzigen Teil dieses menschlichen Körpers zu geben, der nicht ständig seinem Geist berichtete, was er gerade aufnahm: die Meeresluft, die seine Wangen streifte, das Strahlen der aufgehenden Sonne, deren Farbe gerade zu jenem hellen Gleißen überzugehen begann, das es unmöglich machte, sie länger als einen Lidschlag ohne Schmerzen zu betrachten, die Unregelmäßigkeiten des Bodens unter seinen Füßen und eine Vielzahl anderer Dinge.
Er hob die Hand, die den Dolch umfasste, und führte die Klinge zu seinem hoch erhobenen linken Arm. Mit der Spitze der Waffe schob er den Ärmel seines Obergewands zurück bis zum Ellbogen. Dann setzte er die Klinge dicht unter dem Handgelenk an und vollführte einen kurzen, schnellen Schnitt.
Eine dünne Linie aus Blut leuchtete auf seiner hellen Haut. Er drehte den Arm so, dass der Sonnenschein das Rot erglühen ließ. Das Blut floss träge zu seiner Armbeuge hinab, ein langer, leicht gekrümmter Strich gleich einer freigelegten Ader.
Sein Lächeln wurde ein wenig dünner.
Was für ein hässlicher Witz, dass es ausgerechnet das Blut von jenem war, den die Verbannten einst erschaffen hatten, das nun durch seine Adern floss und dieses menschliche Herz zum Schlagen brachte!
Dieser Schnitt war notwendig gewesen. Er durfte den Anblick der Wunde an seinem Arm nicht vergessen. Egal, wie sehr er sich als einer von ihnen fühlen mochte, er steckte noch immer in diesem Körper fest, war noch immer an diese Hülle gekettet, von der jedes einzelne Glied eines Tages der Bestimmung des Verfalls und der Verwesung zugeführt werden würde. Das durfte er nicht vergessen. Dieser Körper besaß Kräfte, die jene eines gewöhnlichen Menschen um ein Vielfaches überstiegen, dennoch war es ein Körper, der verletzt, ja sogar zerstört werden konnte. Wollte er je wieder einen Körper wie sie besitzen, durfte dies nicht geschehen – nicht, bevor er seine Aufgabe vollendet hatte.
Sein Blick wanderte von der Blutspur an seinem Arm hinüber zu der Festung, die zu seiner Linken auf ihrer Klippe prangte, ein Bollwerk aus Stein, aufgetürmt auf grauem Fels, mit einem schlanken, pechschwarzen Turm, der hoch in den klaren Morgenhimmel aufragte.
Heute war der Tag. Es hatte lange, so lange gedauert, alles vorzubereiten, länger, als diese lächerlich eingeschränkten menschlichen Gehirne es nachvollziehen konnten. Noch war das Ende des Plans nicht abzusehen, aber heute würde es beginnen.
Er wusste, dass der Endar sich dort versteckt hielt. Nicht nur, dass die Temari, die er für ihre Dienste als Späher bezahlte, ihm davon berichtet hatten – er selbst konnte den Verräter regelrecht riechen , obwohl es natürlich nichts mit dem Geruchssinn dieses menschlichen Körpers zu tun hatte. Nein, er stach einfach unter all den Empfindungen, die er verspürte, wenn er seinen Geist auf diesen Ort richtete, so deutlich heraus, als ob der Kerl sich wie ein Köter auf dem Körper eines verwesenden Tieres gewälzt hätte.
Dieser Endar war so leicht zu durchschauen! Und der göttliche Witz an der Angelegenheit war: Das, was jener aus dem Alten Volk in Carn Taar suchte, würde sich in den richtigen Händen gegen ihn wenden – eine Klinge, die sich in den Leib des eigenen Trägers bohrte!
Langsam senkte er den Arm und steckte den Dolch zurück in die Scheide. Es wurde Zeit, Sareth und die beiden anderen zu treffen. Er brauchte ein paar zusätzliche Hände, die Waffen halten und die Wachleute beschäftigen konnten, während er sich um den Elfen kümmerte.
Er blickte noch einmal zur Festung hinüber, und kurz gefror das Lächeln in seinem Gesicht.
Da war noch etwas anderes als der Geruch dieses Endars, eine Gegenwart, die sich von den lauten und groben Stimmen der Temari innerhalb der Mauern unterschied.
Sie erschien ihm eigenartig vertraut, dennoch konnte er sie nicht einordnen, so als würde er einer Musik lauschen, in der ein Instrument eine tragende Rolle
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