Runlandsaga - Wolfzeit
bahnen, hinab in Feuchtigkeit und Stille. Winzige Fliegen schweben beinahe reglos in den Flecken aus gleißendem Mittagslicht, um plötzlich pfeilschnell zwischen hohen Farnen zu verschwinden. Die Luft riecht anders als im Frühling oder während der grauen Wintertage. Sie duftet nach Wärme.
In ihrem Traum liegt Neria auf dem Rücken und blickt in das Blätterdach über sich. Sie atmet tief ein. Ihre Augen, die gen Himmel gerichtet sind, hat sie fest geschlossen, so dass sie nur noch das leuchtende Gelb der Sonne wahrnimmt, das sich durch die dünne Haut ihrer Lider stiehlt.Die Wärme, in die ihr Körper getaucht ist, erfüllt sie mit einem tiefen Gefühl von Glück.
So muss der Wald, der nie endet, beschaffen sein – der Wald des Weißen Wolfs. Für die meisten der Jäger aus ihrem Dorf ist der Ort, an dem sie von Talháras nach ihrem Tod geleitet werden, ein Wald, der keine Grenzen besitzt und dessen Bäume sich in alle Richtungen ausbreiten. Egal, wie lange sie auch auf ihren Streifzügen unterwegs wären, seinen Rand würden sie zu keiner Zeit erreichen. Der Schutz des Blätterdachs läge für immer auf ihnen.
Doch in Nerias Vorstellung ist der Wald, der nie endet, vor allem ein Wald an einem Sommertag, dessen Dauer niemals von der Kälte eines zukünftigen Winters bedroht wird. An diesem Ort schwindet die Sonne nicht mit dem Vergehen des Jahres dahin, so dass die Blätter fallen und der Eishauch des Nordens eine dicke Decke aus Schnee über das Gras legt, das noch vor wenigen Monaten ein weiches Bett war.
An diesem Ort wird Talháras´ Versprechen eingelöst.
Ein dumpfer Schlag riss die junge Frau jäh aus ihrem Schlaf. Sie schrak hoch, ihre Augen weit aufgerissen und in die Dunkelheit starrend, ohne sagen zu können, wo genau sie sich befand.
Der sonnige Tag aus ihrem Traum geistert noch immer durch ihre Gedanken. Fast könnte sie die am tiefsten hängenden Blätter über ihr ergreifen und in ihren Handflächen zusammenrollen.
In ihrer Nähe ertönte ein weiteres Poltern. Nerias Herz schlug schneller. Sie sog scharf Luft durch ihre Nase ein. Der salzige, kalte Atem der See erfüllte ihre Lungen und vertrieb die letzten Fetzen ihres Traumbildes aus ihrem Gedächtnis. Es war die nächtliche Meeresluft, die ihr wieder einfallen ließ, dass sie sich auf einem Schiff aufhielt. Der Lärm, der sie aufgeweckt hatte, war aus dessen Inneren zu ihr gedrungen.
Sie erhob sich von der Decke, in die sie sich gehüllt hatte. Der junge Mann mit den dunklen Haaren und dem blassen Gesicht – Enris, ay, das war sein Name! – hatte sie ihr gebracht, zusammen mit etwas gesalzenem Fisch und einem Krug Wasser. Er hatte kaum mit ihr gesprochen und war schnell wieder unter Deck verschwunden, so dass der Leichnam des Endars in seinem Stuhl ihr als einzige Gesellschaft geblieben war. Sie hatte sich auf den Deckplanken niedergelassen, ihren Rücken an die Reling gelehnt, und seine im Dunkeln kaum erkennbaren Umrisse beobachtet. Eigentlich hatte sie ihre Augen die Nacht über offen halten wollen, das war schließlich der Sinn einer Totenwache. Aber irgendwann musste sie wohl doch die Erschöpfung ihrer tagelangen Wanderung vom Roten Wald zur Küste übermannt haben.
Die Gesichtszüge des toten Elfen waren inzwischen deutlicher auszumachen. Als die Voronfrau ihren Blick zum Nachthimmel erhob, hatte dieser etwas von seinem beinahe ins Schwarze gehenden Dunkelblau verloren.
Erst jetzt, da sie aufrecht stand, bemerkte sie das leichte Schwanken unter ihren Füßen. Während sie geschlafen hatte, war die Flut herangerollt und hatte den flachen Rumpf des verankerten Schiffes angehoben. Es war ein ungewohntes Gefühl, das sich wie ein störendes Jucken an einer schlecht zu erreichenden Körperstelle in ihr Bewusstsein drängte und sie daran erinnerte, dass sie von allen Seiten von der See umgeben war. Der Wald lag endgültig hinter ihr.
Der lebende, atmende Boden, über den ihre Füße bis zum heutigen Tag gelaufen waren, war ebenso fort wie das Gefühl der Anwesenheit des Weißen Wolfs. Talháras, dessen Ruf sie bis zu diesem Ort an der Küste gefolgt war, hatte sich aus ihrem Geist zurückgezogen. Jetzt war sie in der Fremde auf sich allein gestellt.
Erneut drang Lärm vom Unterdeck herauf. Diesmal mischten sich mehrere Stimmen in das Poltern, aber Neria konnte nicht genau verstehen, was sie sagten. Unwillkürlich wanderte ihre Hand zu dem Dolch an ihrem Gürtel. Ob sich die Menschen, die zur Mannschaft dieses Schiffes gehörten,
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