Runlandsaga - Wolfzeit
Mondlicht. Er war an der Küste angekommen. Jetzt musste er doppelt vorsichtig sein, um bei seinem Weg zum Strand und dem Piratenlager hinab nicht zu straucheln und abzustürzen. Außerdem waren ab hier vielleicht die ersten Wachposten aufgestellt.
Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend tastete er sich an der vordersten Klippe entlang. Hier war ein schmaler Pfad in den Stein gehauen worden, der in die Bucht hinabführte. Enris begann den Abstieg. Mehrere Male war er sich nicht sicher, dass er seinen Weg im Dunkeln würde fortsetzen können. Doch immer fand er im letzten Moment einen Vorsprung für seinen nächsten Schritt.
Zwei der Lichter, die er aus der Ferne gesehen hatte, leuchteten im Inneren von steinernen Gebäuden, die wie gedrungene Rundtürme in die Klippen hinein gebaut worden waren. Der eine befand sich schräg unter ihm, der andere auf etwa derselben Höhe am anderen Ende einer beinahe kreisrunden Bucht. Die dritte Lichtquelle entpuppte sich im Näherkommen als loderndes Lagerfeuer, breit wie ein Scheiterhaufen, nur wenige Fuß vom Strand entfernt. Entlang des Uferstreifens war ein hoher Erdwall aufgeschichtet und mit zugespitzten Pflöcken versehen worden. Er reichte vom einen Ende der Bucht, an dem Enris abwärts stieg, bis zum anderen. Zu beiden Seiten schloss er mit den Steilklippen ab. Nur in seiner Mitte hatte man eine Lücke freigelassen, durch die das Ufer erreicht werden konnte. Rechts und links davon waren Barrikaden aus Strandgut aufgeschichtet. Es war offensichtlich, wofür sie gut sein mochten: Falls Gefahr für das Lager drohte, konnten sie schnell dazu verwendet werden, die Lücke zu schließen und den Wall dicht zu machen.
Direkt am Lagerfeuer saßen zwei reglose, in Decken gehüllte Gestalten. Sonst war niemand am Strand zu erkennen. Als Enris den schmalen Pfad weiter hinabstieg, fiel ihm in einiger Entfernung zu seiner Rechten der Schein von Fackeln auf. Ob dort der Eingang zu den Höhlen sein mochte, die sich die Piraten zu ihrer Behausung gewählt hatten?
Es half alles nichts, er musste näher heran, wenn er den anderen etwas Nützliches berichten wollte und die Anstrengungen der letzten Stunden irgendeinen Sinn gehabt haben sollten.
Der Pfad die Klippen hinab führte ihn genau auf den Rundturm zu, dessen Licht ihm von oben aufgefallen war. Das steinerne Gebäude war nicht besonders hoch. Es besaß etwa die Größe eines zweistöckigen Hauses. Enris war nun bis zu seiner Basis hinabgestiegen und bemühte sich, so leise wie möglich daran vorbei und weiter nach unten zu schleichen. Hoffentlich befand sich niemand in seinem Inneren, der dort Wache hielt! Unruhig glitt sein Blick über die Fensterhöhlen an der Spitze des Turms. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das Leuchtfeuer dort oben von der offenen See aus zu erkennen war. Bestimmt diente es nur dazu, im Dunkeln den Pfad zum Strand zu markieren.
Die niedrige Holztür in der Turmmauer war geschlossen. Dennoch konnte Enris nicht anders, als sie im Auge zu behalten, als er an ihr vorbeiging. So übersah er eine Mulde im Weg und stolperte. Er ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu behalten, aber vergebens. Ein lautes Stöhnen entkam ihm, als seine Hände, mit denen er versuchte, dem Aufprall abzumildern, über den Boden schürften. In der nächtlichen Stille kam ihm das Geräusch vor, als ob er einen lauten Schrei ausgestoßen hätte. Jeden Muskel seines Körpers angespannt blieb er auf dem Pfad vor dem Turm liegen und lauschte.
Das Blut in seinen Adern verwandelte sich in Eiswasser, als er die Geräusche von Schritten vernahm. Doch diesmal lähmte ihn die Angst nicht wie in der brennenden Ratshalle. Einige Augenblicke blieben ihm noch. Er kam hoch, unterdrückte den Schmerz in den Beinen und den aufgeschürften Händen und hechtete zurück in die völlige Dunkelheit zwischen der Turmmauer und der Felswand. Im selben Moment öffnete sich vor ihm die Tür und schwang ihm entgegen.
Enris hielt den Atem an, versuchte, zu einem weiteren Fleck in der Nacht zu werden, einem leblosen Teil der Klippe in seinem Rücken.
Als er schon hoffte, die Tür würde sich unverrichteter Dinge wieder schließen, trat eine schattenhafte Gestalt auf den Pfad. Wortlos drehte sie ihren Kopf und blickte sich um. Enris kniff seine Augen beinahe völlig zu, um sich nicht durch das Weiße in ihnen zu verraten, und blinzelte zwischen seinen Wimpern hindurch. Er merkte, wie dringend er Wasser lassen musste.
Die Gestalt wandte sich in
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