Runlandsaga - Wolfzeit
seine Richtung. Sie blickte den Pfad hinauf, den er eben entlanggekommen war. Minutenlang schien sie ihn anzusehen. Enris war sich sicher, dass er entdeckt worden war. Alles in ihm drängte darauf, loszurennen, solange er noch konnte. Als er glaubte, nicht einen Augenblick länger reglos dastehen zu können, drehte sich die Gestalt um und verschwand wieder im Inneren des Turms. Die Tür schloss sich.
Zitternd rang Enris nach Luft.
Das war noch einmal gut gegangen! Ein Wunder, dass er es im Dunkeln überhaupt bis hier hinab geschafft hatte, ohne sich den Hals zu brechen. War es klug, sein Glück wirklich weiter herausfordern? Es reichte doch, was er alles entdeckt hatte. Sollten sich Aros und Corrya darum kümmern, den Weg in die Höhlen zu finden!
Doch erneut siegte sein Ehrgeiz über seine Vorsicht. Wenigstens einen Blick über den hinteren Teil des Strandes wollte er noch bekommen, wenn er es schon so weit geschafft hatte. Noch vorsichtiger als zuvor schlich er voran.
Er hatte den Turm im Rücken, als hinter ihm die Tür mit durchdringendem Knarren erneut geöffnet wurde. Noch bevor er sich umdrehen konnte, rief ihn eine barsche Stimme an.
»Beweg dich nicht, oder ich schieß dir einen Bolzen ins Kreuz!«
Enris gehorchte sofort. Der Mann, dessen Stimme er vernommen hatte, hörte sich an, als ob er jedes Wort genauso meinte, wie er es sagte. Wie versteinert fror er mitten in seinem Schritt ein.
»Leg langsam deine Hände auf den Kopf. Langsam, verstanden?«
Wieder gehorchte Enris. Ihm war, als ob er die Stelle an seinem Rücken, die das Geschoss gleich durchschlagen würde, schon jetzt fühlen konnte.
Er war nicht einmal mehr besonders erschrocken oder aufgeregt. Alles, was sein Verstand an Panik hatte aufbringen können, schien sich vor kurzem aufgebraucht zu haben, als er sich vor dem Mann versteckt hatte, von dem er nun doch überrumpelt worden war. Eine bleierne Müdigkeit hatte ihn unverhofft gepackt, zusammen mit einer regelrecht schicksalsergebenen Verzweiflung. Alles war umsonst gewesen. Die ganze verfluchte Anstrengung für nichts. Er war tatsächlich nur ein junger Dummkopf, der ein besserer Kundschafter hatte sein wollen als die Krieger, deren jahrelanges Geschäft in genau solchen Unternehmungen bestand.
»Los, umdrehen!«
Enris konnte dem Mann kaum ins Gesicht sehen. Sein Blick glitt an den harten Augen eines Jägers, der seine Beute gestellt hatte, ab und blieb an dem Bolzen hängen. Dessen breiter Schaft war auf eine Armbrust gespannt und wies in seine Richtung wie der Zeigefinger des Schicksals, bereit, sich mit einem hässlichen, lauten Klicken von der Waffe zu lösen und sich in seinen Körper zu bohren. Diese gespannte Waffe zu betrachten glich einem Blick in einen dunklen Schacht, auf dessen Grund das Totenboot vor Anker lag.
Es war vorbei.
19
Auf ihrer Reise durch Runlands Süden schien es Pándaros, als ob die Schicksalsweberin selbst dafür Sorge getragen hätte, dass Deneb und er rechtzeitig in Tillérna ankamen. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er sich misstrauisch fragte, wie lange diese Glückssträhne wohl noch anhalten mochte. Es lief alles beinahe zu gut.
Schon auf dem Alten Markt in Sol konnte er schneller als erwartet einen Wagenzug von Händlern finden, die sich noch am selben Abend nach Incrast aufmachen wollten. Ohne zu zögern kauften sich die beiden Priester in den Zug ein. Es wurden ihnen Plätze in einem der letzten Wagen zugeteilt. Nur wenige Stunden nach ihrem Verschwinden aus dem Orden hatten sie T’lar hinter sich gelassen.
Das Reisen innerhalb von Handelszügen war die sicherste Möglichkeit, sich in Runland über große Strecken hinweg zu bewegen. Für gewöhnlich kannten die daran teilnehmenden Kaufleute die Gegenden entlang der Handelsstraßen gut. Außerdem wurden größere Gruppen von Reisenden nur selten von Banditen angegriffen. Pándaros’ und Denebs Erleichterung, so schnell eine gute Reisemöglichkeit gefunden zu haben, überwog daher ihre schmerzenden Knochen, die auf dem holprigen Wagen ordentlich durchgeschüttelt wurden.
In den nächsten Tagen fuhr der Händlerzug an der Küste entlang geradewegs nach Westen, bis er die Stadtmauern von Aphnat erreichte. Weder Pándaros noch Deneb waren jemals in dieser Küstenstadt gewesen. Der Archivar aber kannte Aphnats wechselvolle Geschichte aus den Texten der Schriftensammlung und wurde nicht müde, seinem Freund davon zu erzählen.
Eigentlich hatte Pándaros nicht vor, die Händlerwagen vor
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