Runlandsaga - Wolfzeit
Archive studierte.
Es waren jene Hallen des Wissens gewesen, in denen Pándaros zum ersten Mal auf seinen um Jahre jüngeren Freund getroffen war. Einen Nachmittag lang hatte er vergeblich ein Buch über den Gründer von T´lar gesucht, das eigentlich nicht aus dem Archiv entfernt werden durfte. Schließlich hatte er mit Hilfe des Archivars Deneb herausgefunden, was passiert war: Ein junger Ordensbruder namens Ranár hatte sich das Buch mit der Begründung, dessen Einband zu ersetzen, unter den Nagel gerissen, um es in seiner Zelle zu lesen. Pándaros hatte den erregten Deneb beruhigt und anschließend Ranár aufgesucht, weil er ihn zur Rede stellen wollte.
Aus der geplanten Strafpredigt war eine stundenlange Unterhaltung über den Einfluss der beiden Nachfolger des ersten Ordensmeisters auf T´lar geworden. Danach hatte man die beiden Männer fast täglich zusammen gesehen, die Köpfe über alte Schriften gebeugt. Zwei Bücherfresser hatten sich gefunden.
Es dauerte nicht lange, da galt Pándaros unausgesprochen als Ranárs väterlicher Freund und Ratgeber. Mehr als einmal hieß es, dass Ranár bei allen seinen Streichen und Regelbrüchen nur deswegen noch immer im Orden verblieben sei, weil Pándaros seinen Einfluss geltend gemacht und eine schützende Hand über ihn gehalten hätte. Er kannte Ranár wie kein anderer, denn er wusste um eine Seite seines Freundes, die allen anderen in T´lar verborgen blieb.
Der junge Priester war in Incrast aufgewachsen, Haldors zweitgrößter Stadt, deren Schicksal es zu sein schien, auf immer im Schatten von Tyrzar zu stehen. Er hatte nicht gerne über seine Familie gesprochen, deswegen hatte Pándaros kaum nachgefragt. Das Wenige, was er über die Vergangenheit seines Freundes wusste, hatten ihm andere über ihn berichtet.
Ranárs Vater gehörte zur Adelssippe der Norvon, die ihre Vorfahren bis in die Zeit von Incrasts Gründung zurückverfolgen konnten. Deneb, mit dem Pándaros ausgedehnte Streitgespräche über Runlands Geschichte zu führen pflegte, hatte seine eigenen Ansichten über hochgeborene Familien.
»Adel entsteht durch das Schwert, nicht durch den Willen der Götter«, pflegte er zu sagen. »Alle diese edlen Familien verdanken ihren Reichtum gewiss nicht irgendeinem Unsterblichen, der sie dazu bestimmt hätte, über andere Sippen zu herrschen. Sie sind nur über die Leichen derer, die sie aus dem Weg geschafft haben, bis an die Spitze gekrochen.«
Pándaros hätte bei dem, was er über Ranárs Familie gehört hatte, Denebs Meinung nicht widersprochen. Der Ahnherr, dem die Norvon auch ihren Namen verdankten, war T´lars Archiven zufolge nichts weiter als ein örtlicher Kriegsherr gewesen. Aber seine große Gewitztheit und vor allem seine Rücksichtslosigkeit hatten ihm binnen weniger Jahre eine Vormachtstellung vor den anderen Anführern der Clans auf der Halbinsel von Haldor verschafft. Norvon hatte die aufblühende Siedlung Incrast von einer rivalisierenden Sippe erobert und befestigt. Wenn in der alten Burg über der Stadt auch schon seit einigen hundert Jahren niemand mehr aus dem Geschlecht der Norvon herrschte, so besaß seine Familie dennoch starken Einfluss auf das Herrscherhaus von Incrast.
Adelsfamilien schickten ihre Söhne immer wieder aus religiösen Gründen nach Sol in den Orden. Aber in Ranárs Fall war sich Pándaros sicher, dass es sich um nichts anderes als eine politische Entscheidung gehandelt hatte. Bestimmt hatte dessen Vater gehofft, dass sein Sohn in die höheren Ränge von T´lar aufsteigen und irgendwann Einfluss auf den Rat der Stadt nehmen würde. Das wäre durchaus in Incrasts Interesse gewesen. Um so gründlicher hatte Ranárs Familie ihn fallen gelassen, als sich von Jahr zu Jahr klarer herausstellte, dass sich der junge Mann mehr für Ordensbelange als für höfische Ränke begeisterte. Keiner seiner Verwandten besuchte ihn mehr. Auch er selbst kehrte nie wieder in die Stadt seiner Kindheit zurück. Geschichten gingen um, dass er in seiner Familie nicht mehr erwünscht sei.
Pándaros ahnte, dass dies mehr als nur hässliche Gerüchte waren. Nach außen hin gab sich Ranár unverändert, ein gut gelaunter Mann, der sich mit den meisten Brüdern seines Alters gut verstand. Doch seinem väterlichen Freund zeigte er unter vier Augen ein anderes Gesicht. Oft war er von einer tiefen Traurigkeit erfüllt. Selbst die aufregendsten Entdeckungen, die Pándaros ihm in den Archiven zeigte, vermochten Ranárs Geist dann nicht von diesem
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