Runlandsaga - Wolfzeit
eindringen sollen? Man sagte mir, du hättest lange Zeit in der Fremde zugebracht. Du bist nach Hause zurückgekehrt und gleich darauf durch das Quelor hierher gekommen. Wann immer ich dich seit deiner Ankunft gesehen habe, war deine Begleiterin bei dir. Abgesehen davon, dass es kein unbemerktes Sellarat gibt, hätte ich auch keine Gelegenheit dazu gehabt.«
Langsam senkte Alcarasán seine Hände. »Bei dem Streit mit meiner Schwester war meine Mutter ebenfalls im Raum. Du hättest das, was du darüber wusstest, auch von ihr herausbekommen können. Aber wenn du wirklich diejenige bist, die du zu sein vorgibst, dann erzähle mir etwas, das nur sie und ich wissen!«
Ranár seufzte. »Also gut. Aber letztendlich wird es darauf hinauslaufen, ob du in der Lage bist, daran zu glauben, dass ich die Wahrheit spreche oder nicht. Jeden Beweis kann man fälschen.«
»Erzähl!«, entgegnete Alcarasán ungerührt.
»Erinnerst du dich noch daran, wie wir beide in die Tiefen des Vortex vordringen wollten?« Ranár lachte auf. Alcarasán lief ein Schauer über den Rücken, denn das Geräusch aus dem Mund dieser menschlichen Gestalt hörte sich an wie das Lachen einer Serephinfrau, die er gut gekannt hatte.
»Damals hatten wir gerade unsere ersten Flüge außerhalb der Stadtkuppel unternommen. Wir, die Irinori-Zwillinge, allein, ohne die Begleitung von Veranarín! Wir tauchten in einen Himmel ein, der nur uns beiden gehörte. Niemand der Älteren beaufsichtigte uns. Niemand sagte uns, wie weit wir uns von Gotharnar entfernen sollten. Alles stand uns offen. Alles.«
Alcarasán lauschte den Worten des Temarimannes vor ihm, in dessen Körper ein Serephin steckte, der behauptete, seine lang verschwundene Schwester zu sein.
Das war doch verrückt. Es konnte nicht wahr sein.
Aber nichtsdestotrotz erwartete ein Teil von ihm, dass es wahr wäre. Er ertappte sich dabei, wie sehr er nach all der Zeit immer noch hoffte, Manari würde plötzlich wieder in sein Leben treten. Oh ja, er erinnerte sich an das Ereignis, auf das dieses Wesen vor ihm anspielte! Wie damals packte ihn Beklommenheit. Als wäre er in einen Alptraum hineingeraten, der sich ständig wiederholte, ohne dass etwas an dessen Ablauf ändern konnte.
Der blutrote Himmel seiner Heimat erblühte vor den Augen seiner Erinnerung.
Mit weit ausgebreiteten Schwingen gleitet er über den höchsten Punkt der Stadt hinweg, die Kuppel und das Eingangsportal, den Kranz aus Kristallen, durch die sie Vovinadhár verlassen hatten. Neben ihm fliegt Manari, ihre Augen fest geschlossen, ein entrücktes Lächeln auf ihrem Gesicht. Heute ist ihrer beider Geburtstag. Sie sind endlich alt genug, um die Stadt verlassen zu dürfen, deshalb ließ das Portal sie hindurch. Eigentlich war es ihren Eltern nicht recht gewesen, dass ihre Kinder schon so früh alleine die Welt außerhalb Gotharnars erkunden wollten. Aber Alcarasán und Manari haben die beiden so lange bekniet, bis sie schließlich nachgaben, unter der Bedingung, dass sie sich nicht zu weit von der Stadt entfernen sollten.
Flügelschlagend schießen sie empor in den Himmel. Lachend kreisen sie umeinander, jagen sich, um sich plötzlich senkrecht hinabfallen zu lassen und kurz über der Kuppel wieder die Schwingen auszubreiten und erneut an Höhe zu gewinnen. In den Wolken hoch über ihnen leuchtet ein tiefroter Fleck, so dunkel, dass er beinahe schwarz erscheint: das Portal, das aus Vovinadhár hinausführt. In diesem Moment stehen ihnen alle Welten offen. Nie wieder werden sie sich so frei fühlen wie jetzt.
Mit einem Mal richtet sich Manaris Blick auf den Vortex unterhalb des Felsens, auf dem Gotharnar erbaut ist. Der Gesteinsbrocken ist riesig, doch von so weit oben gesehen schwebt er über dem Abgrund – wie ein Kiesel, der von einem Riesen in einen tiefen Brunnenschacht geworfen wurde und mitten im Fall begriffen ist. Das Licht, das der Welt der Serephin seinen roten Schein schenkt, dringt aus seinen Tiefen hervor.
»Komm!«, ruft Manari ihrem Bruder zu. »Lass uns in den Vortex hineinfliegen! Wir wollen sehen, wie tief wir es hinab schaffen!«
Alcarasán sieht sie erschrocken an, während er sie umkreist.
»Was? Bist du verrückt? In den Vortex fliegen ist gefährlich! Vater hat mir erzählt, dass einen die Hitze da drin umbringen kann.«
»Ach, hab keine Angst!« Manari lacht. »Ich will doch nicht bis in seine tiefsten Regionen vordringen. Was soll da schon Schlimmes passieren?«
Alcarasán könnte sich viel Schlimmes im
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