Rushdie, Salman
jetzt ein Leben weniger anzeigte: neunhundertachtundneunzig. Nobodaddy
döste wieder an Deck, und Luka rief: «Wie wär's? Wollen Sie mir nicht helfen?»
Doch Nobodaddy rührte sich nicht, und Luka sah ein, dass er die Funktionsweise
des Schiffs alleine herausfinden musste. Vielleicht waren die Anzeigen und
Messgeräte ja doch wichtiger, als er gedacht hatte.
Beim zweiten
Versuch konnte er immerhin verhindern, dass die Argo sich
überschlug, nur waren sie noch nicht weit gekommen, als ein Strudel anfing, ihr
Schiff im Kreis herumzuwirbeln. «Was ist denn jetzt los?», schrie Luka,
woraufhin Nobodaddy den Panamahut lüpfte und erwiderte: «Sind bestimmt die
Mahlströme.» Was aber waren Mahlströme? Die Argo drehte
sich schneller und immer schneller und würde schon im nächsten Augenblick
wieder in die Tiefe gerissen werden. Nobodaddy richtete sich auf. «Hmmm»,
sagte er. «Tja, ganz eindeutig, die Mahlströme treiben ihr Unwesen.» Er blickte
ins Wasser, formte mit den Händen einen Trichter und rief: «Nelson! Duane!
Fisher! Schluss jetzt! Sucht euch jemand anderen für eure Spielchen!» Doch
schon wurde die Argo unter Wasser gedrückt, und wieder
gab es einen Blackout, nach dem sie erneut auf der Anlegebrücke standen; der
Zähler zeigte neunhundertsiebenundneunzig an. «Fische», meinte Nobodaddy kurz
angebunden. «Strudelfische. Kleine, schnelle Schlingel. Mahlströme aufwirbeln
gehört zu ihren liebsten Freizeitbeschäftigungen.» - «Und was macht man
dagegen?», wollte Luka wissen. «Tja, wie man es schafft, in die Vergangenheit
zurückzugelangen», sagte Nobodaddy, «musst du schon selbst herausfinden.»
«Lassen
Sie mich raten ... indem man sich erinnert?», fragte Luka. «Indem man sie nicht
vergisst?»
«Sehr
gut», antwortete Nobodaddy. «Und wer vergisst nichts und nie?»
«Elefanten»,
sagte Luka, und im selben Moment fiel sein Blick auf ein Paar bizarr
aussehender Geschöpfe mit Entenleibern und riesigen Elefantenköpfen, die unweit
vom Ankerplatz der Argo im Wasser
dümpelten. «Und», fuhr er langsam fort, «in der Welt der Magie natürlich auch
die Elefantenvögel.»
«Hundert
Punkte», erwiderte Nobodaddy. «Die Elefantenvögel trinken ihr Leben lang vom Zeitfluss,
deshalb reicht kein Gedächtnis weiter zurück als ihres. Wer aber auf dem
Zeitfluss fahren will, der braucht als Treibstoff Erinnerungen. Ein
Düsenantrieb ist da ziemlich zwecklos.»
«Können
sie uns zum Lebensfeuer bringen?», fragte Luka.
«Nein»,
sagte Nobodaddy. «Erinnerungen führen nur bis zu einem bestimmten Punkt zurück,
weiter nicht. Ein gutes Gedächtnis aber bringt uns ein gutes Stück des Weges
voran.»
Auf den
Elefantenvögeln zu reiten, dachte Luka, wie sein Bruder Harun einst auf einem
großen, telepathischen, mechanischen Wiedehopf geritten war, dürfte schwierig
werden, und das nicht zuletzt, weil er keine Ahnung hatte, wie Bär und Hund
sich festhalten sollten. «Entschuldigt, Elefantenvögel», rief er, «aber wärt
ihr vielleicht so gut, uns zu helfen?»
«Ausgezeichnete
Manieren», sagte der größere der beiden Elefantenvögel, «machen doch immer
einen guten Eindruck.» Er sprach mit tiefer, majestätischer Stimme,
offensichtlich ein Elefantenerpel, dachte Luka. «Wir können nicht fliegen,
weißt du», setzte die Gefährtin des Erpels in damenhaftem Ton hinzu. «Bitte
uns also nicht, euch irgendwohin zu fliegen. Unsere Köpfe sind dafür viel zu
schwer.»
«Wahrscheinlich,
weil ihr euch an so vieles erinnern könnt», sagte Luka, woraufhin die
Elefantenente sich das Gefieder mit der Schnabelspitze putzte. «Ein Schmeichler
ist er auch noch», sagte sie. «Ganz der kleine Charmeur.»
«Du
möchtest bestimmt, dass wir euch flussaufwärts ziehen», sagte der
Elefantenerpel.
«Guck
nicht so überrascht», fügte die Elefantenente an. «Schließlich hören wir
Nachrichten, weißt du? Wir versuchen stets, auf dem Laufenden zu bleiben.»
«Hat
vermutlich sein Gutes, dass man sich dort, wo ihr hinwollt, nicht mit der
Gegenwart abgibt», ergänzte der Elefantenerpel. «Da oben interessiert man sich
nämlich nur für die Ewigkeit. Das könnte hilfreich sein, denn ihr habt die
Überraschung auf eurer Seite.»
«Und wenn
ich das noch anfügen darf», sagte die Elefantenente, «ihr werdet alle Hilfe
brauchen, die ihr bekommen könnt.»
Kurze Zeit
später waren die beiden Elefantenvögel vor die Argo gespannt
und begannen, das Schiff rasch und sanft flussaufwärts zu ziehen. «Was ist mit
den Strudeln?»,
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