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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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ins Gesicht. «Sie wissen schon, was ich meine»,
schloss er dann weit weniger gebieterisch, als er begonnen hatte.
    «Hmmm»,
sagte Nobodaddy nachdenklich. «Warum nehmen wir nicht zum Beispiel dieses
unglaublich leistungsstark aussehende, geländegängige, schwimmfähige,
panzerstarke und vermutlich düsengetriebene Amphibienfahrzeug mit acht
Rädern/Schrägstrich/Flachboden, das da an dieser kleinen Anlegebrücke
festgemacht hat?»
    «Das war
eben gerade noch nicht da», sagte Hund der Bär.
    «Keine
Ahnung, wie er das angestellt hat», sagte Bär der Hund, «aber mir gefällt's
nicht.»
    Luka
wusste, dass er keine Rücksicht auf den Argwohn seiner Freunde nehmen konnte,
also ging er zu dem riesigen Schiff, das laut dem kühnen Schriftzug am Heck Argo hieß. Sein
Vater wurde immer weniger, Nobodaddy aber immer kräftiger, deshalb drängte
seine Suche wie nie zuvor. Dabei schwirrte Luka der Kopf vor lauter Fragen,
auf die er keine Antworten wusste, schwierige Fragen über die Natur der Zeit.
Wenn die Zeit ein Fluss war und ewig dahinströmte - und hier, direkt vor ihm,
floss er, der Zeitfluss! -, bedeutete das dann, dass die Vergangenheit immer
da war und dass es die Zukunft bereits gab? Sicher, er konnte sie nicht sehen,
weil Nebel sie verhüllte - Nebel oder Wolken, Dunst oder Rauch aber sie würde
ja wohl existieren, denn wie könnte es diesen Fluss sonst geben? Wenn
andererseits aber die Zeit wie ein Fluss dahinströmte, war die Vergangenheit
doch gewiss längst verflossen, und wie sollte er dann dorthin zurückkehren, um
das Lebensfeuer zu finden, das in den Wissensbergen brannte, die am See der
Weisheit aufragten, der vom Anbeginn aller Tage erhellt wurde? War die
Vergangenheit aber bereits vorbei, was lag dann da hinten an der Quelle des
Flusses? Und wenn die Zukunft schon existierte, kam es dann vielleicht gar
nicht darauf an, was er, Luka, als Nächstes tat? War Raschid Khalifas Schicksal
womöglich längst besiegelt, ganz unabhängig davon, wie sehr er sich anstrengte,
das Leben seines Vaters zu retten? Und falls die Zukunft zumindest teilweise
durch sein Tun geprägt werden konnte, würde der Fluss der Zeit dann seinen Lauf
ändern, je nachdem, was er jetzt tat? - Was geschah dann mit den
Geschichtenströmen? Würden sie anfangen, andere Geschichten zu erzählen? Was
stimmte also: a) dass Geschichte von Menschen gemacht und in der Welt der Magie
vom Zeitfluss nur widergespiegelt wurde, oder b), dass der Fluss die Geschichte
bestimmte, weshalb die Menschen in der realen Welt nur die Bauern auf seinem
ewigen Schachbrett waren? Welche Welt war realer? Wer hatte letztlich das
Sagen? Ach, und noch eine Frage, vielleicht die drängendste aller Fragen: Wie sollte
er die Argo lenken? Er war ein
zwölfjähriger Junge, der noch nie Auto gefahren oder am Steuer eines Schiffes
gestanden hatte; Hund und Bär waren auch keine große Hilfe, und Nobodaddy hatte
sich bereits faul an Deck ausgestreckt, den Panamahut ins Gesicht gezogen und
die Augen geschlossen.
    «Okay»,
dachte Luka grimmig, «so schwer wird's schon nicht sein.» Angestrengt besah er
sich die Armaturen der Brücke. Zog er diesen Regler hier nach unten, fuhren vermutlich
die Räder aus, mit denen sie sich an Land fortbewegten, weshalb er ihn auf
Wasser bestimmt nach oben schieben musste. Der Knopf da war grün, was natürlich Start bedeutete, und der daneben war rot, was zweifellos Stopp hieß, und
diesen Hebel musste er selbstredend nach vorn drücken, damit sie losfuhren, und
je weiter er ihn vorschob, umso schneller fuhren sie natürlich. Mit dem Steuer
schließlich wurde gelenkt; all die sonstigen Anzeigen, Messgeräte, Zähler und
zitternden Nadeln konnte er vermutlich einfach ignorieren.
    «Alle Mann
festhalten», befahl er. «Auf geht's.»
    Irgendwas
passierte so schnell, dass Luka sich nicht sicher war, wie oder was genau
geschah, aber nur Sekunden später überschlug sich das düsengetriebene Amphibienfahrzeug
mehrmals mitten auf der breiten Wasserstraße, und dann schwammen alle in den
Fluten, und ein Strudel zog sie nach unten, sodass Luka gerade noch Zeit
hatte, sich zu fragen, was ihn verschlingen würde, ein Krankfisch oder sonst
eine Wasserkreatur, ehe er das Bewusstsein verlor und einen Moment später auf
der kleinen Anlegebrücke wieder wach wurde, an Bord der Argo ging und
sich sagte: «So schwer wird's schon nicht sein.» Dass überhaupt etwas geschehen
war, verriet ihm bloß sein kleiner Zähler in der oberen linken Blickfeldecke,
der

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