Rushdie, Salman
wieder nur Tiere, die einem ungewissen Schicksal
entgegentrieben.
Endlich
gab es eine Veränderung. Das Weiß dünnte aus. Es war nicht mehr alles und
überall, wirkte eher wie dicke Wolken am Himmel, durch die ein Flugzeug raste,
und da vorn war etwas - ja, eine Öffnung! -, und schon meldete sich das
verlorene Gefühl von Geschwindigkeit zurück, ein Gefühl, als ob der Teppich wie
eine Rakete in Richtung Licht schieße, das jetzt so nah war und immer näher
kam, bis sie endlich - wrummmm - in einen
hellen, sonnigen Tag katapultiert wurden. Alle an Bord des Resham jubelten
laut, jeder auf seine Weise, und als Luka seine Wangen berührte, spürte er
überrascht, dass sie nass von Tränen waren. Er hörte ein mittlerweile
vertrautes Pling, und der Zähler in der oberen
rechten Ecke seines Blickfelds rückte auf drei vor. In seiner Aufregung hatte
er den Speicherpunkt nicht einmal bemerkt. Wie war das möglich? «Du hast nicht
hingesehen», sagte Soraya. «Ist schon in Ordnung. Ich habe für dich
gespeichert.»
Als Luka
nach unten schaute, sah er die Große Stagnation. Auf dieser Seite des Nebels
der Zeit fächerte sich der Fluss zu einem gigantischen Sumpf auf, der sich in
alle Himmelsrichtungen erstreckte, so weit das Auge reichte. «Wie schön», sagte
er. «Ja, es ist schön», erwiderte Soraya, «falls es denn Schönheit ist, wonach
du suchst. Dort unten findet man seltene Alligatoren, riesige Spechte, wohlduftende
Zypressen und fleischfressende Sonnentaupflanzen. Aber du kannst auch vom Weg
abkommen, dich verirren, ja sogar verlieren, da es in der Natur der Großen
Stagnation liegt, jeden gefangen zu nehmen, der sich dorthin vorwagt, indem sie
eine schläfrige Faulheit in dir verbreitet, das Verlangen, für immer dort zu
bleiben, dein eigentliches Ziel und dein altes Leben zu vergessen und dich
einfach unter einen Baum zu legen und auszuruhen. Die Düfte der Stagnation
sind außerordentlich, doch auch sie bergen Gefahren. Atmest du jene Schönheit
ein, legst du dich mit einem zufriedenen Lächeln auf eine Graskuppe ... und
bleibst für immer ein Gefangener des Sumpfes.»
«Dem
Himmel sei Dank für dich und deinen fliegenden Teppich», sagte Luka. «Der Tag,
an dem ich dich getroffen habe, war wirklich der glücklichste Tag in meinem Leben.»
«Oder der
unglücklichste», sagte Soraya von Ott. «Denn ich kann dich nur immer näher an
die größten Gefahren heranführen, denen du dich je zu stellen haben wirst.»
Was für
ein angenehmer Gedanke.
«Lass dich
nicht von dem goldenen Speicher-Button verleiten», fügte die Insultana noch
hinzu. «Da unten ist er, direkt neben der Stagnation, aber wenn wir zu ihm
hinabfliegen, atmen wir den Gutenachtduft ein, fallen in einen tiefen Schlaf,
und schon ist es um uns geschehen. Außerdem brauchen wir hier nicht zu
speichern. Wenn wir das Ende der Irrwege erreichen, werden die vorherigen
Levels gleich mitgespeichert.»
Der
Gedanke, Speicherpunkte einfach auszulassen, machte Luka nervös, denn würde er
nicht, wenn er aus irgendeinem Grund ein Leben verlor, die Große Stagnation
noch einmal überqueren müssen? «Mach dir deshalb keine Sorgen», sagte Soraya.
«Sorg dich lieber um das, was uns hier erwartet.» Sie zeigte direkt nach vorn.
In der Ferne erkannte Luka den Rand einer niedrigen, flachen Wolkenformation,
die sich langsam im Kreis drehte. «Darunter liegt der Unentrinnbare Strudel»,
sagte Soraya. «Hast du schon einmal von El Nino gehört?» Luka runzelte die
Stirn. «Ist das diese warme Stelle im Ozean?», antwortete er. Die Insultana
von Ott schien beeindruckt. «Im Pazifischen Ozean», korrigierte sie. «El Nino
ist riesig, so groß wie Amrika, tritt alle sieben, acht Jahre auf und lässt
das Wetter verrücktspielen.» Das wusste Luka, zumindest erinnerte er sich
daran, als sie es ihm sagte. «Aber was hat das mit uns zu tun?», fragte er.
«Wir sind nicht einmal irgendwo in der Nähe des Pazifischen Ozeans.» Wieder
wies Soraya nach vorn. «Das da», sagte sie, «direkt über dem Strudel, ist El
Tiempo. El Tiempo ist ebenso groß wie Amrika, tritt auch nur alle sieben, acht
Jahre auf, und wenn, dann geschieht Schreckliches mit der Zeit. Fällt man in
den Unentrinnbaren Strudel, in dem die Zeit herumwirbelt, bleibt man auf immer
gefangen, wird man jedoch von El Tiempo erfasst, spielen die Dinge richtig
verrückt.»
«Aber wir
fliegen zu hoch, um da hineinzugeraten, nicht?», fragte Luka ein wenig besorgt.
«Wollen
wir es hoffen», erwiderte Königin
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