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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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hatte - hab Vertrauen
in den Teppich, hatte sie gesagt -, waren die Reisenden in dieser
kleinen Blase wohlbehütet und begannen so die Durchquerung der Nebel.
    «Ach
herrje», rief die Elefantenente, «wir reisen ins Vergessen. Was für eine
Zumutung für einen Gedächtnisvogel.»
     
    *
     
    Es ist,
als wäre man blind, dachte Luka, denn vielleicht war Blindheit ja voller Farben
und Formen, voller Helligkeiten und Dunkelheiten, Sprenkel und Blitze, zumindest
sah es hinter seinen Lidern so aus, wenn er die Augen schloss. Er wusste, dass
taube Menschen durchaus allerhand statische und andere summende, klingelnde
Geräusche wahrnahmen, und vermutete, dass es sich bei Blinden ähnlich
verhielt. Diese Blindheit aber war anders; sie fühlte sich, na ja, absolut an. Er
musste daran denken, wie Nobodaddy ihn gefragt hatte: «Was war vor dem Urknall?»,
und er ahnte, dass dieses Weiß, dieses Fehlen von allem, die Antwort sein
könnte. Den Nebel hier konnte man nicht einmal als Ort bezeichnen, denn hier
war man, wenn man an keinem Ort war. Und
jetzt verstand Luka auch, was damit gemeint war, wenn es hieß, etwas sei im
Nebel der Zeit verloren. Eigentlich war das nur eine Redewendung, aber diese
Nebel hier waren nicht bloß Worte. Sie waren das, was war, ehe es überhaupt
irgendwelche Worte gegeben hatte.
    Dieses
Weiß aber war keine Leere; es bewegte sich, war aktiv, umspülte den Teppich wie
eine Brühe aus Nichts. Nichts-Suppe. Der Teppich flog so schnell er konnte, und
das war sehr, sehr schnell, trotzdem schien er bewegungslos in der Luft zu
verharren. In ihrer kleinen Blase gab es keinen Wind, und rundum war nichts zu
sehen, das eine Ahnung von ihrem Tempo vermitteln konnte. Wahrscheinlich würde
es sich genauso anfühlen, dachte Luka, wenn der Teppich mitten im Nebel
anhielte und sie auf immer in ihm ausgesetzt blieben. Kaum hatte er das gedacht,
fühlte es sich auch schon so an. Sie bewegten sich gar nicht. Hier, in dieser
Zeit vor aller Zeit, trieben sie dahin, verschollen, verloren. Wie hatte die
Elefantenente diesen Ort genannt? Das Vergessen. Ein Ort
der vollständigen Erinnerungslosigkeit, des totalen Nichts, der
Nicht-existenz. Fegefeuer sagten religiöse Menschen dazu.
Der Ort zwischen Himmel und Hölle.
    Luka
fühlte sich allein. Natürlich war er nicht allein, all seine Gefährten waren
noch bei ihm, trotzdem fühlte er sich schrecklich einsam. Er wollte zurück zu
seiner Mutter, vermisste seinen Bruder und wünschte sich, sein Vater würde
nicht schlafen. Er sehnte sich nach seinem Zimmer, den Freunden, der Straße,
der Nachbarschaft, der Schule. Er wollte, dass das Leben wieder so war, wie es
immer gewesen war. Der Nebel der Zeit brodelte um den Teppich, und er begann
Finger im Weiß zu sehen, lange Tentakel, die nach ihm schnappten und ihn
auslöschen wollten. Allein im Nebel der Zeit (auch wenn er gar nicht allein
war), begann er sich zu fragen, was um alles in der Welt er getan hatte. Er
hatte gegen die wichtigste Regel der Kindheit verstoßen - Rede nie
mit fremden Leuten - und sogar zugelassen, dass ihn ein
Fremder aus seinem sicheren Leben an den unsichersten Ort brachte, den er sich
nur vorstellen konnte. Also war er ein Dummkopf und würde für seine Dummheit
bestimmt bezahlen müssen. Und wer war dieser Fremde überhaupt? Er hatte gesagt,
er sei nicht geschickt, sondern gerufen worden.
Als ob ein Sterbender - ja, hier im Nebel der Zeit konnte Luka dieses Wort
endlich zulassen, wenn auch nur in Gedanken -, als ob sein sterbender Vater den
eigenen Tod herbeirufen würde! Das konnte er kaum glauben. Wie blöd war es
doch, einfach mit einer Person - einer Kreatur - ins Blaue (ins Weiße) zu
stiefeln, der man nicht vollständig glaubte oder vertraute! Luka hatte sich
immer für einen vernünftigen Jungen gehalten, aber diese Ansicht hatte er
jetzt selbst widerlegt, und zwar gründlich. Er war der unvernünftigste Junge,
den er kannte.
    Luka
blickte sich nach Hund und Bär um. Beide sagten keinen Ton, doch sah er ihren
Augen an, dass sie sich ebenfalls schrecklich einsam fühlten. Die Geschichten,
die sie erzählt hatten, als sie die Gabe der Sprache erlangten, die
Geschichten ihres Lebens, schienen ihnen zu entgleiten. Vielleicht waren sie
diese Menschen ja nie gewesen, vielleicht hatten sie nur ihre Träume erzählt,
banale Träume davon, Edelleute zu sein. Träumte nicht jeder von einem Leben als
Prinz? In dieser weißen, weißen Ödnis entglitt ihnen die Wahrheit ihrer
Geschichten, und sie waren

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