Rushdie, Salman
sich ins Tuch hüllte, hatte er das Gefühl, in die Tropen versetzt zu sein
- plötzlich war ihm fast zu warm, und es wäre ihm lieber gewesen, es würde wieder
ein wenig kühler. «Manchen Leuten kann man es einfach nicht recht machen»,
sagte die Insultana, die offenbar seine Gedanken gelesen hatte, wandte sich
dabei aber von ihm ab, um ein freundliches Grinsen zu verbergen.
Jetzt, da
ihm warm war und er sein Gleichgewicht gefunden hatte, konnte Luka die
herrliche Aussicht genießen. Der Teppich folgte dem Lauf des Zeitflusses, und
an beiden Ufern breitete sich die Welt der Magie aus. Luka, der Sohn des
Geschichtenerzählers, begann, all die Landschaften und Orte wiederzuerkennen,
die ihm aus den Geschichten seines Vaters so vertraut waren und die er nun mit
wachsender Begeisterung und klopfendem Herzen zuordnen konnte: Khwab, die
Stadt der Träume, Umeed Nagar, die Stadt der Hoffnung, Zamurrad, die
smaragdgrüne Stadt, und Baadal-Garh, die Stadt mit einer Wolkenburg. Tief im Osten
ragten die blauen Berge des Reiches der Verlorenen Kindheit am Horizont auf,
im Westen lag das Unentdeckte Land; und dort drüben war der Ort-wo-niemand-wohnte.
Aufgeregt bemerkte Luka die verrückte Architektur des Hauses der Spiele mitsamt
Spiegelsaal und sah daneben den Garten Eden sowie zwei weitere Paradiesgärten
namens Gulistan und Bostan liegen. Am faszinierendsten fand er jedoch
Peristan, das weite Land der Imaginären Wesen, in dem die Peris, auch Feen
genannt, endlos mit bösen Ogern kämpften, den Devs und Bhoots. «Hätte ich es
doch nur nicht so eilig», dachte Luka, denn von dieser Welt, die in seinem
Leben schon so oft von ihm gezeichnet und gemalt worden war, hatte er stets
geglaubt, dass sie sogar besser sei als seine eigene.
Nun, da er
so hoch oben dahinflog und alles übersehen konnte, wurde ihm klar, wie
ungeheuer groß die magische Welt und wie kolossal lang der Zeitfluss war. Er
begriff, dass er nie dorthin gekommen wäre, wohin er reisen musste, hätte er
sich allein auf das Gedächtnis der Elefantenvögel als Treibstoff und ihre
körperliche Zugkraft verlassen. Nun aber brachte ihn der fliegende Teppich von
König Salomon in Windeseile seinem Ziel entgegen, und obwohl er wusste, dass
ihn Gefahren erwarteten, wurde er immer aufgeregter, denn dank der Insultana
von Ott schien das Unmögliche gerade ein kleines bisschen möglicher geworden
zu sein.
Bis sein
Blick auf die Nebel der Zeit fiel.
Anfangs
waren sie kaum mehr als eine weiße, wolkige Masse am Horizont, doch je länger
der Teppich darauf zuraste, desto deutlicher trat ihr wahrhaft gewaltiges
Ausmaß zutage. Wie eine watteweiche Wand zogen sie sich quer über die Welt, von
Horizont zu Horizont, verschlangen die verzauberte Landschaft und verzehrten
den Himmel. Jeden Moment würden sie Lukas gesamtes Blickfeld einnehmen, und
dann gäbe es keine magische Welt mehr, nur noch diese klammen Nebel. Luka
spürte, wie seine Zuversicht dahinschwand und sich ein kaltes, mieses Gefühl in
seiner Bauchgegend ausbreitete. Selbst als Soraya ihm eine Hand auf die
Schulter legte, beruhigte ihn das nicht.
«Wir haben
die äußerste Grenze des Gedächtnisses erreicht», verkündete Nobodaddy. «Bis
hierher hätten dich deine flügellahmen Enten bringen können.» Die Elefantenvögel
waren sehr empört. «Wir sind es nicht gewohnt», sagte der Elefantenerpel mit
aller Würde, die er aufbringen konnte, «derart despektierlich tituliert zu
werden.» (Da hatte nun aber der echte Nobodaddy gesprochen, dachte Luka, jene
Kreatur, die er aus gutem Grund nicht mochte. Sein Vater hätte nie etwas
derartig Beleidigendes gesagt.) «Dürften wir außerdem», fuhr der Elefantenerpel
fort, «an das altehrwürdige Sprichwort hinsichtlich der Begrenztheit des
elefantösen Gedächtnisses erinnern?»
«Was für
ein Sprichwort?», fragte Luka.
«Ente gut,
alles gut», sagte der Elefantenerpel.
Doch kaum
hatte er das gesagt, prasselte eine Salve von Geschossen aus dem Nebel der
Zeit herab, und der Teppich musste rasch einige Ausweichmanöver fliegen, Haken
nach links und rechts schlagen, in die Tiefe stürzen und steil wieder
aufsteigen. (Wie die Tiere verlor Luka erneut das Gleichgewicht, sodass es auf
dem Teppich wieder drunter und drüber ging, was jede Menge bärige,
hundserbärmliche und entenelefantöse Proteste auslöste.) Die Geschosse schienen
aus derselben Substanz wie der Nebel selbst zu bestehen, weiße Nebelbälle,
groß wie Kanonenkugeln. «Können die uns überhaupt etwas
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