Rushdie, Salman
Meerjungfrauen aus dem Wasser des Kreisrunden
Meeres auf und sangen wie Sirenen, um die bösen Eindringlinge in ihren
Untergang zu locken. Gewaltige, inselgroße Kreaturen - Kraken, Zaratane und
kolossale Rochen - hingen regungslos unter der Wasseroberfläche, und wenn ein
Eindringling auf dem Rücken eines dieser Ungeheuer Rast machte, tauchte es
unter und ertränkte ihn, oder es warf sich herum, entblößte sein enormes Maul
mit den scharfen, dreieckigen Zähnen und zerriss den Störenfried in
mundgerechte Happen. Am allerschrecklichsten aber war der gigantische
Gründlerwurm, der blind und wutschnaubend aus den gewöhnlich stillen Tiefen
des Meeres aufstieg, um in wilder Raserei die Schurken zu vertilgen, die den
Alarm ausgelöst und ihn in seinem zweitausendjährigen Schlaf gestört hatten.
Mitten im Chaos
dieser Welt erhoben sich die Feuergötter in all ihrer Herrlichkeit, um Vibggor
zu verteidigen, die einzige Brücke ins Herz des Herzens, den Regenbogen über
das Trennende Meer, der es nur wenigen Auserwählten gestattete, das Land der
Aalim zu betreten. Amaterasu, die japanische Sonnengöttin, verließ die Höhle,
in der sie nach einem Streit mit ihrem Bruder, dem Sturmgott, zwei Millennien
geschmollt hatte. In ihrer Hand hielt sie das magische Schwert Kusanagi, und
ihr Haupt sandte Sonnenstrahlen wie Speere in alle Richtungen. An ihrer Seite
war Kagutsuchi, das Flammenkind, bei dessen Feuergeburt seine Mutter, die
göttliche Izanami, gestorben war. Surt war da, mit seinem feurigen Schwert, und
dicht neben ihm seine Gefährtin Sinmara, die gleichfalls ein tödliches
Feuerschwert trug. Und die irische Bei. Und die polynesische Mahuika mit
Flammen sprühenden Fingernägeln. Und der lahme Hephaistos, Schmied des Olymps,
neben seinem fahlen römischen Abklatsch Vulkan. Und Inti von den Inkas, Sonne
mit menschlichem Antlitz, und der aztekische Tonatiuh, der einstige Herrscher
der Fünften Welt, den es so sehr nach Blut dürstete, dass ihm einst jährlich
zwanzigtausend Menschen geopfert wurden. Über allen jedoch ragte wie eine
gigantische Säule Ägyptens falkenköpfiger Ra in den Himmel auf und suchte mit
durchdringendem, scharfem Vogelblick nach den Möchtegerndieben, auf seiner
Schulter Bennu, der graue Reiher, Ägyptens Phönix. In den Händen hielt er
wurfbereit seine mächtigen Waffen, die Wasjits, die Sonnendiskusse. Von diesen
großen Kolossen also wurde die Brücke bewacht, und sie warteten mit finster
gerunzelter Stirn und Mordlust in den Augen.
Die
Bewohner des Herzens der Magie eilten ungehindert in beide Richtungen über die
Brücke und jagten, jagten; für die gejagten Eindringlinge aber schien kein Weg
an Ras Falkenaugen vorbeizuführen. Zwar versteckte sich Luka weiterhin mit
seinen Gefährten hinter dem Rhododendrongebüsch, doch ihm schien, als würde
das Dickicht ständig durchlässiger, schwände dahin und böte immer weniger
Schutz. Sein Herz schlug schnell. Ihre Lage war mehr als bedrohlich.
«Gut an
diesen Ex-Göttern ist nur», tröstete ihn Soraya, «dass sie in ihren alten
Geschichten feststecken. Der Feuerkäfer hat den Aalim bestimmt korrekt Bericht
erstattet - ein Junge, ein Hund, ein Bär, wird er
gemeldet haben -, aber wenn der Feueralarm ausgelöst wird, fangen alle
unweigerlich an, die üblichen Verdächtigen zu jagen.»
«Wer sind
denn die üblichen Verdächtigen?», wollte Luka wissen. Er merkte, dass er
flüsterte, und wünschte, auch Soraya würde die Stimme senken.
«Ach, die
Feuerdiebe aus vergangenen Zeiten, von überall dort, wo diese Götter noch
Götter waren», sagte Soraya und wedelte leichthin mit der Hand. «Du weißt
schon.
Oder»,
fügte sie dann hinzu und nahm wieder ihre alten Insultana-Angewohnheiten auf,
«bist du zu dumm? Vielleicht hat dein Vater dir ja doch nicht alles
beigebracht, was er dir hätte beibringen sollen. Vielleicht hat er es aber auch
selbst nicht gewusst.» Als sie den Ausdruck in Lukas Gesicht sah, wurde ihre
Stimme weich. «Die Algonquin-Indianer schickten Kaninchen, um das Feuer für sie
zu stehlen», erklärte sie, «und über Kojote weißt du ja bereits Bescheid. Biber
und Gestaltwandler Nanabozho besorgten es für einige andere Stämme. Opossum
hatte kein Glück, aber Großmutter Spinne stahl das Feuer für die Cherokee in
einem Tontopf, wobei mir einfällt» - Soraya schwieg einen Moment -, «dass du
den hier brauchen wirst.»
Sie hielt
einen kleinen Tontopf in Händen. Luka schaute hinein. Auf einem Nest aus
Zweigen lag ein
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