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Rushdie Salman

Rushdie Salman

Titel: Rushdie Salman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die bezaubernde Florentinerin
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es sich bei der dunklen Prinzessin, die doch behauptete, keine Christin zu sein, nicht womöglich um die jüngste Heilige seiner Kirche handeln könne. Giuliano, ein
religiöser Mann, kolportierte diese Anekdote im Beisein
eines Höflings, und bald darauf verbreiteten sie die Flugblattschreiber der ganzen Stadt. Kaum aber hatte Leo X.
auf diese Weise über Qara Köz’ möglicherweise gesegnetes Wesen spekuliert, da tauchten erste Berichte über ihre
Wunder auf.
Viele von denen, die sie durch die Straßen spazieren sahen, behaupteten, um sie herum die kristallene Musik der
Sphären gehört zu haben, andere schworen, sie hätten
einen Lichterkranz um ihren Kopf gesehen, breit genug,
um auch bei hellstem Tageslicht erkennbar zu sein. Unfruchtbare Frauen kamen zu Qara Köz und baten sie,
ihren Bauch zu berühren, um dann der Welt zu erzählen,
dass sie noch in derselben Nacht empfangen hätten. Blinde lernten sehen, Lahme gehen, bloß eine nachweisbare
Auferstehung von den Toten fehlte unter den Berichten
von ihren Wundertaten. Selbst Ago Vespucci schloss sich
den Reihen der Wundergläubigen an und behauptete, ihr
Segen ruhe auf seinem Weinberg, der, seit sie ihn gnädigerweise besucht habe, den edelsten Tropfen hervorbringe, den seine Familie je ernten durfte; und er versprach,
kostenlos einmal im Monat ein Fässchen zum Palazzo
Cocchi del Nero zu bringen.
Kurz und gut, die als Angelica entschleierte Qara Köz
war zur vollen Blüte ihrer weiblichen Fähigkeiten herangereift und übte sie nun in vollem Umfang aus, kühlte die
Luft mit einem gütigen Hauch, der die Gedanken der
Florentiner mit Bildern elterlicher, kindlicher, körperlicher und göttlicher Liebe füllte. Anonyme Flugblattschreiber erklärten sie zur Reinkarnation der Göttin Venus. Sanfte Düfte der Versöhnung und Harmonie durchzogen die Luft, man arbeitete schwerer, aber auch produktiver, das Familienleben wurde besser, die Geburtenrate stieg, und die Kirchen waren voll. Sonntags hörten
die Medici in der Basilika San Lorenzo Predigten, die
nicht bloß die Tugenden der Oberhäupter aller mächtigen
Familien rühmten, sondern auch jene ihres Gastes, einer
Prinzessin nicht allein im fernen Indien oder Cathay,
sondern auch bei uns daheim in Florenz.. Das war die
strahlend helle Zeit der Zauberin, die Dunkelheit aber
ließ nicht lange auf sich warten.
In jenen Tagen steckten die Köpfe der Leute voller Bilder
von imaginären Hexen, Bilder von Alcina zum Beispiel,
der bösen Schwester von Morgana le Fay, mit der sie die
dritte Schwester verfolgte, die gute Hexe Logistilla, eine
Tochter der Liebe; sodann von Melissa, der Zauberin von
Mantua; von Dragontina, die den Ritter Orlando gefangen nahm; von der uralten Circe, aber auch der namenlosen, jedoch furchterregenden Zauberin von Syrien. Die
Hexe als hässliches Ungeheuer, als altes Weib, wich in
der Vorstellungswelt der Florentiner jener hinreißenden
Kreatur, deren offenes Haar eine lockere Moral verriet,
deren Verführungskünste unwiderstehlich schienen, deren Magie manchmal im Dienste des Guten eingesetzt
wurde, manchmal aber auch, um Schaden anzurichten.
Nach der Ankunft von Angelica nahm die Idee der guten
Zauberin schließlich feste Gestalt an als die eines wohlwollenden, übermenschlichen Wesens, das zugleich Göttin der Liebe und Beschützerin des Volkes war. Dort
drüben ging sie schließlich über den Mercato Vecchio,
lebensgroß - «Koste meine Birnen, Angelica!» - «Das
sind ganz süße, saftige Pflaumen, Angelica!» -, kein
Hirngespinst, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut.
Also wurde sie angehimmelt, und man glaubte, sie sei zu
Großem fähig, doch trennt die Zauberin nur ein schmaler Grat von der Hexe. Es gab noch immer Stimmen, die
andeuteten, diese neue Inkarnation einer Magierin, die
alle okkulte Macht der Frauen freisetzte, sei nichts als
Maskerade, und die wahren Gesichter solcher Damen
seien doch immer noch die gefürchteten Fratzen der Lamia, der alten Vettel.
    Jene Skeptiker, die dank ihres griesgrämigen Naturells
eine Abneigung gegen übernatürliche Erklärungen für
geschichtliche Ereignisse hegen, ziehen es vermutlich
auch vor, konventionellere Gründe für die goldene Zeit
der allgemeinen Zufriedenheit und des materiellen Wohlstandes anzugeben, die Florenz in jenen Tagen genoss.
Unter der gütig tyrannischen Regentschaft von Leo X.,
dem eigentlichen Herrn und Meister von Florenz, den
man, je nach Blickwinkel, für ein Genie oder

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