Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rushdie Salman

Rushdie Salman

Titel: Rushdie Salman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die bezaubernde Florentinerin
Vom Netzwerk:
dem Fleisch
würde sich der Mut der Bestie auf das Volk übertragen.
Er verkündete, dass die Einhaltung religiöser Pflichten
frei von allen Zwängen zu sein habe, welcher Religion
man auch angehöre, dass Tempel gebaut und lingams
gewaschen werden konnten, nur Bärte wollte er nicht
tolerieren, denn Bärte zogen ihre Kraft aus den Hoden,
weshalb Eunuchen auch keine wuchsen. Er verbot Kinderehen und missbilligte Witwenverbrennungen sowie
Sklaverei. Er riet seinem Volk, sich nach dem Liebesspiel nicht zu waschen. Und er bat den Fremdling zum
Anup Talao, dessen Wasser unruhig und kabbelig dahinströmte, obwohl kein Wind wehte, ein Omen dafür, dass
jenes, was in Frieden ruhen sollte, aufgestört worden war.
«Euch umgeben immer noch zu viele Geheimnisse», sagte der Herrscher aufgebracht. «Wir können uns nicht auf
einen Mann verlassen, dessen Lebensgeschichte wir nicht
vollständig kennen. Also erzählt uns alles, nur gleich
heraus damit, und dann können wir entscheiden, was mit
Euch geschehen soll und wohin Euch Euer Schicksal
führt, hinauf zu den Sternen oder hinab in den Staub.
Klar und deutlich, bitte. Lasst nichts aus, heute wird ein
Urteil gefallt.»
«Es könnte sein, dass Euch nicht behagt, was ich zu erzählen habe», erwiderte Mogor dell’Amore, «denn es
betrifft Mundus Novus, die Neue Welt, sowie die unbeständige Natur der Zeit in jenem kaum erforschten Territorium.
    In Mundus Novus jenseits des Ozeanischen Meeres waren die gewöhnlichen Gesetze von Zeit und Raum außer
Kraft gesetzt. Was den Raum betraf, so konnte er sich an
einem Tag extrem ausdehnen, am nächsten aber wieder
zusammenziehen, sodass die Größe der Erde entweder
verdoppelt oder halbiert schien. Forscher brachten radikal
verschiedene Berichte über die Proportionen der Neuen
Welt heim, über die Eigenart ihrer Bewohner sowie über
die Art und Weise, wie es auf diesem neuen Quadranten
des Kosmos zuging. Es gab Berichte über fliegende Affen und Schlangen, lang wie Flüsse. Und was die Zeit
betraf, so war sie völlig aus den Fugen. Sie beschleunigte
und verlangsamte sich nicht nur ganz nach Belieben, es
gab auch Perioden - allerdings vermag das Wort «Perioden» diese Phänomene nur recht unzulänglich zu umschreiben -, in denen sie überhaupt nicht verging. Die
Einheimischen, jedenfalls jene wenigen, die eine europäische Sprache beherrschten, bestätigten, dass es keinerlei
Veränderung in ihrer Welt gebe, dass dies ein Ort der
Stasis sei, außerhalb der Zeit, und just so war es ihnen
sehr recht. Möglicherweise - zumindest gab es einige
Philosophen, die lautstark diese These vertraten -, möglicherweise also war die Zeit erst durch europäische Reisende und Siedler zusammen mit der ein oder anderen
Krankheit nach Mundus Novus gebracht worden. Deshalb funktionierte sie auch nicht richtig. Sie hatte sich der
neuen Lage noch nicht angepasst. «Mit der Zeit», sagten
die Leute in Mundus Novus, «wird Zeit sein.» Vorläufig
hatte man sich jedoch mit der fluktuierenden Natur der
Uhren der Neuen Welt abzufinden. Eine der alarmierendsten Auswirkungen dieser chronologischen Ungewissheit
bestand darin, dass die Zeit für manche Leute in unterschiedlichem Tempo verging, selbst innerhalb einzelner
Familien und Haushalte. Kinder konnten rascher als ihre
Eltern altem, bis sie älter als ihre Altvorderen wirkten.
Für manche Eroberer, Seeleute und Siedler schien der
Tag nie lang genug zu sein, andere dagegen hatten alle
Zeit der Welt.
Während der Herrscher Mogor dell’ Amores Geschichte
lauschte, ging ihm auf: Die Länder des Westens waren in
einem Maße exotisch und surreal, wie es das Verständnis
der einfachen Völker des Ostens weit überstieg. Im Osten
arbeiteten die Menschen hart, lebten gut oder schlecht,
starben einen edlen oder einen sinnlosen Tod und glaubten an Religionen, die große Kunst hervorbrachten, große
Lyrik, große Musik und die neben ein wenig Trost auch
viel Verwirrung stifteten. Ganz gewöhnliche leben eben.
In jenen fabelhaften Gefilden des Westens aber schien
das Volk für Hysterien anfällig zu sein - etwa die Jammerer-Hysterie in Florenz -, die ihre Länder wie Krankheiten heimsuchten und ein jegliches ohne Vorwarnung bis
aufs äußerste veränderte. In letzter Zeit hatte die Goldverehrung eine besonders extreme Spielart der Hysterie
hervorgebracht, die zur treibenden Kraft der Geschichte
geworden war. Vor seinem geistigen Auge sah Akbar die
aus Gold

Weitere Kostenlose Bücher