Rushdie Salman
errichteten Tempel des Westens, drinnen goldene Priester, draußen goldene Gläubige, die zum Beten
kamen und goldene Gaben brachten, um ihre goldenen
Götter zufriedenzustellen. Sie aßen Gold und tranken
Gold, und wenn sie weinten, rann geschmolzenes Gold
über ihre schimmernden Wangen. Es war dieses Gold,
das die Matrosen trotz der Angst, über den Rand der Welt
zu fallen, immer weiter nach Westen über das Ozeanische Meer getrieben hatte. Gold und auch Indien, von
dem sie glaubten, es berge fabelhafte Schätze.
Indien fanden sie nicht, doch sie fanden … Land im Westen. In diesem Westland entdeckten sie Gold und suchten
mehr, suchten goldene Städte und Flüsse aus Gold, dabei
trafen sie auf Lebewesen, die noch unglaublicher, noch
aufsehenerregender waren als sie selbst, bizarre, unfassbare Männer und Frauen mit Federn, Haut und Knochen,
die sie Indianer nannten. Akbar fand das ziemlich ärgerlich. Männer und Frauen, die ihren Göttern Menschenopfer darbrachten, wurden Indianer genannt! Manche dieser
«Indianer» in der anderen Welt waren offenbar kaum
besser als die Urmenschen, und selbst jene, die Städte
und Reiche erbaut hatten, versanken, so schien es dem
Herrscher, tief in Blutideologien. Ihr Gott war halb Vogel, halb Schlange; ihr Gott war aus Rauch. Sie kannten
einen Gemüsegott, einen Gott für Rüben und Getreide.
Sie litten unter der Syphilis und hielten Steine, Regen
und Sterne für lebende Wesen. Auf den Feldern arbeiteten sie langsam, beinahe träge, und sie glaubten nicht an
Veränderung. Diese Menschen Indianer zu nennen war
nach Akbars tief empfundener Überzeugung eine Beleidigung für die edlen Männer und Frauen von Hindustan.
Der Herrscher wusste, er hatte in seinem Denken eine
Schranke erreicht, eine Grenze, über die hinaus ihn seine
Kräfte der Empathie und des Interesses nicht tragen
konnten. Da waren Inseln, die sich zu Kontinenten wandelten, und Kontinente, die sich als bloße Inseln erwiesen. Da waren Flüsse und Dschungel, Landzungen und
Landengen, doch hol sie der Teufel. Vielleicht waren
Hydren in jenen Gefilden, Greife oder Drachen, die
Schatzhaufen bewachten, wie sie angeblich im tiefen
Dschungel ruhten. Er gönnte sie den Spaniern, den Portugiesen. Allmählich dämmerte diesen närrischen Exoten
nämlich, dass sie keinen Weg nach Indien gefunden hatten, sondern ganz woanders waren, weder in Ost noch in
West, irgendwo zwischen dem Westen, dem großen
Gangesmeer und Taprobane, der sagenumwobenen Insel
der Schätze, hinter der die Königreiche Hindustan, Cipangu und Cathay lagen. Sie hatten entdeckt, dass die
Welt größer war, als sie vermuteten. Nun, viel Glück
jenen, die den Ozean durchzogen von Insel zu Insel zur
Terra Firma, um am Skorbut zu verrecken, am Hakenwurm, an Malaria, Schwindsucht und den Himbeerpocken. Der Herrscher war ihrer aller überdrüssig.
Und doch war sie dorthin aufgebrochen, die pflichtvergessene Prinzessin des Hauses Timur und Temüdschin,
Babars Schwester, Khanzadas Schwester, Blut von seinem Blut. Keine Frau in der Geschichte der Welt hatte je
eine Reise wie die ihre unternommen, dafür liebte er sie
und bewunderte sie auch, doch wusste er genau, dass ihre
Reise über das Ozeanische Meer ein Sterben gewesen
war, ein Tod vor dem Tod, denn auch der Tod war ein
Segeln aus dem Bekannten ins Unbekannte. Sie war in
die Unwirklichkeit gesegelt, in eine Welt der Phantasie,
die noch in die Existenz geträumt wurde. Das Phantasma,
das seinen Palast heimsuchte, war wirklicher als jene
Frau aus Fleisch und Blut, die einst die reale Welt für
eine unmögliche Hoffnung aufgegeben hatte, so wie sie
zuvor die natürliche Welt der Familie und der Verpflichtung für ihre egoistische Liebe aufgegeben hatte. Indem
sie davon träumte, den Weg zurück zu ihren Ursprüngen
zu finden, mit ihrem früheren Selbst wiedervereint zu
werden, verlor sie sich auf immer.
Der Weg nach Osten war ihr versperrt. Die Piraten in den
Gewässern machten eine Überfahrt viel zu riskant. In der
osmanischen Welt und im Königreich von Schah Ismail
hatte sie ihre Schiffe verbrannt. In Chorasan, so fürchtete
sie, würde sie von jenem gefangen genommen werden,
der heute die Lücke füllte, die Shaibani Khan einst hinterlassen hatte. Und wo Babar war, wusste sie nicht, doch
stand ihr auch der Weg zu ihm nicht offen. In Genua, im
Strandhaus von Andrea Doria, wohin sie Ago Vespucci
gebeten hatte, sie mitzunehmen, entschied sie, nicht jene
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