Russendisko
Stock aus
dem Fenster. Der Freund hatte ihn nicht betrogen. Er wartete unten und hatte auch alle notwendigen Vorkehrungen zum Auffangen getroffen. Aber er stand unter dem falschen Fenster. Außerdem hatte mein Bekannter die Distanz falsch eingeschätzt, war zu weit gesprungen und gegen eine Straßenlaterne geprallt. Glücklicherweise konnte er sich an einem NPD-Plakat »Mut zur Wahl - wähle National« festhalten. Mit diesem rutschte er dann langsam nach unten. Sein Freund schleppte ihn ins Auto. Nur das NPD-Plakat blieb zurück. Einige Stunden später stellte mein Bekannter fest, dass sein Bein immer mehr anschwoll. Er ging zum »Chirurgen«, einem illegalen russischen Arzt, der in seiner illegalen Praxis illegale Patienten von legalen Krankheiten heilt. Der »Chirurg« untersuchte ihn und diagnostizierte einen Beinbruch. Jetzt muss mein Bekannter mindestens einen Monat lang mit einem Gipsbein herumlaufen, und das Autofahren kann er erst mal auch vergessen.
»Eines habe ich aber aus der Geschichte gelernt«, sagte er zu mir und nahm einen kräftigen Zug aus meiner Zigarette: »Man muss sich immer anschnallen!«
Ein verlorener Tag
Der Kulturredakteur einer Zeitung ruft mich an. Ich soll mir irgendwas zum Thema Jugendkultur einfallen lassen. Und das um 10.00 Uhr früh. Was ist das überhaupt, Jugendkultur? Ich rufe meinen Freund Kolia an, der immer über alles Bescheid weiß. Er sagt, ich sollte vielleicht MTV ankucken, je länger desto besser. Sie fangen um acht an, die Einführung habe ich schon verpasst. Was soll's. Ich schalte den Fernseher an: Dicke schwarze Männer tanzen um einen Baum herum. Das Telefon klingelt. Ein gewisser Herr Kravchuck, ein Reporter von Spiegel spezial, meldet sich und mault, er hätte für seinen Beitrag über in Berlin lebende osteuropäische Intellektuelle so gut wie gar keine passenden Kandidaten gefunden. Bei den Russen hatte er nur ein paar ältere, frustrierte Typen aufgetrieben und Bulgaren gar keine. Ich rege mich auf. Wie bitte? Keine Bulgaren? Die sind doch überall, man erkennt sie ja nur nicht, weil sie die Deutschen so perfekt nachmachen. Jedes Orchester in Deutschland hat einen bulgarischen Dirigenten, die gesamte Uniprofessorenschaft besteht hauptsächlich aus Bulgaren, dann gibt es noch den Stockhausenpreisträger, und zu guter Letzt das Bulgarische Kulturinstitut. Und wenn es um osteuropäische Intellektuelle geht, dann gibt es, verdammt noch mal, mich. Der Spiegelmann schreibt sich das alles auf und meint auch, dass ich unbedingt in die Sonder-Ausgabe rein muss. »In 20 Minuten kommt der Fotograf und macht die Fotos von Ihnen.« Ich ziehe schnell die Hosen an und suche nach einem sauberen Hemd. Gleichzeitig kucke ich weiter MTV in Sachen Jugendkultur. Die dicken schwarzen Männer drehen noch immer unverdrossen ihre Runden um den Baum. Der Fotograf heißt Karsten und will mich in einer Menschenmenge
fotografieren, das Lieblingsklischee für die Darstellung des osteuropäischen Intellektuellen: ein Fremder, doch irgendwie einer wie du und ich. Ich muss 23-mal die Schönhauser Allee hin und her laufen. Und es klappt immer noch nicht. Die Menschenmenge erkennt sofort den Mann mit der Kamera und rennt auseinander. Schließlich ändert Karsten seine Taktik. Er versteckt sich in der Menschenmenge und wartet auf eine günstige Gelegenheit. Dabei wird ihm sein Handy geklaut. Nach zwei Stunden bin ich wieder zu Hause. Im Fernsehen gehen Beavis und Butthead ins Kino. Okay, Jungs, ich bin wieder da, es kann losgehen, die Jugendkultur also. Ich, Beavis und Butthead kucken uns den Clip von der Gruppe Prodigy an. Irgendetwas ist da mit dem Koffer passiert, er rollt runter zum Fluss und acht verschwitzte Männer rennen ihm hinterher. Sie fallen dann alle in den Fluss, Ende der Geschichte. Die dicken Schwarzen setzen ihre Runden um den Baum fort. Der eine von ihnen verblutet. »Warum springt er so rum?«, fragt Butthead. »Ich weiß nicht«, sagt Beavis, »vielleicht hat man ihm die Sonderausgabe von Spiegel spezial über osteuropäische Intellektuelle in den Arsch gesteckt. HAHAHA! Und angezündet. HIHIHI!«
Das Telefon klingelt. Der Rundfunkredakteur von der russischen Redaktion »MultiKulti« erzählt, dass heute Abend im Kino Arsenal der erste sowjetische Science-Fiction-Film, »Aelita«, aus dem Jahre 1924 gezeigt wird. Ich solle darüber berichten und unbedingt Originaltöne liefern. Das Aufnahmegerät und ein Mikro liegen beim SFB schon bereit, ich muss die Sachen nur
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