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Russendisko

Titel: Russendisko Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer,Wladimir
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Nachrichten sich selbst plötzlich eine Ohrfeige verpasste und wie die Obdachlosen eine Mückensuppe auf der Straße kochten. Überall auf der Welt gibt es Mücken. Nur hier nicht, das ist selbstverständlich nicht der einzige Grund, warum mir Berlin so gefällt. Die Menschen finde ich auch cool. Die meisten Bewohner der Hauptstadt sind ruhig, gelassen und nachdenklich. Wenn man überlegt, was so alles passiert ist in den letzten Jahren: der Mauerfall, die Wiedervereinigung, die Schließung des Kasinos im EuropaCenter... Trotzdem drehen nur wenige durch. Die Berliner tun stets, was sie für richtig halten und haben am Leben Spaß. In Moskau dagegen kam es zu einer Serie von Selbstmorden, als die Tagesschau einmal zwanzig Minuten später gesendet wurde, und viele flohen aus der Stadt, weil sie dachten, die Welt gehe unter. Laut Statistik haben in Russland nur 17,8 Prozent der Bevölkerung an ihrem Leben Spaß. Zu viele Mücken wahrscheinlich. Deswegen ziehe ich Berlin vor. Neulich traf ich auf der Schönhauser Allee meinen Nachbarn, den Vietnamesen aus dem Obst & Gemüse-Geschäft. Er hat sich eine Dauerwelle verpassen lassen. Sein Weg zur Integration. Jetzt sieht er wie Paganini aus. »Du bist ein Paganini, Chack!«, sagte ich zu ihm. »Ein Paganini!« »Habe
    ich nicht«, sagte er zu mir, »aber Zucchini, hier, bitte schön!« Wir stehen beide an der Schönhauser Allee, er mit der Dauerwelle auf dem Kopf und einer Zucchini in der Hand, ich daneben. Wo sind nur die japanischen Touristen mit ihren teuren Kameras? Sie sind wahrscheinlich im Stau stecken geblieben, nicht jeder Touristenbus schafft die Schönhauser Allee auch nur bis zur Hälfte.
    Natürlich hat Berlin auch Makel. Die Nazis zum Beispiel. Vor zwei Wochen hatten an der Schönhauser die REPs einen Wahlauftritt. Unter einem großen Werbeplakat »Mal zeigen, was ne' Harke is«, verteilten zwei Jungs die Flyer. Aus dem Lautsprecher tönte »Pretty Woman«. »Kommt näher, wir zeigen euch was«, beschwor einer der Jungen die Fußgänger. Die Passanten wahrten Distanz. Wahrscheinlich hatten sie Angst vor der mysteriösen Harke. Was eine Harke ist, wusste ich nicht so richtig und fragte zwei ältere Frauen, die neben mir standen. »Was eine Harke ist? Na ja, dat is so was wie eine Schaufel, nur etwas anjespitzt», antwortete die eine Frau. »Für Gartenarbeit.« »Mehr für den Friedhof«, erwiderte die andere. »Das werde ich mir merken«, sagte ich. »Ach, das müssen Sie nicht, das ist kein gutes Wort. So sind sie nun, unsere Nazis, die denken sich immer wieder neuen Blödsinn aus«, beruhigten mich beide Frauen. Ich ging nach Hause. Es gibt überall Menschen, die einem eine Harke zeigen wollen, in Russland, in Amerika, in Vietnam. Dafür ist es hier mückenfrei.
    Spring aus dem Fenster
    Das Asylrecht in Deutschland ist launisch wie eine Frau, deren Vorlieben und Zurückweisungen nicht nachvollziehbar sind. In den einen Asylbewerber verliebt sich das Asylrecht auf den ersten Blick und lässt ihn nicht mehr gehen. Den anderen tritt es in den Arsch. Neulich auf der Schönhauser Allee traf ich einen alten Bekannten, der offensichtlich Pech mit dem Asylrecht hatte. Schon zweimal versuchte er, sich beliebt zu machen, doch immer wieder wurde er abgeschoben. Ein anderer an seiner Stelle hätte es längst aufgegeben. Er verlor aber trotzdem nicht die Hoffnung und schleuste sich jedes Mal illegal zurück.
    Nun lief er mit einem eingegipsten Bein durch die Stadt. Als ich ihn fragte, was passiert sei, erzählte er mir die dramatische Geschichte seiner letzten Verhaftung. Er war die Greifswalder Straße runter zum Obi-Markt gefahren. Die Polizei hielt ihn an, weil er nicht angeschnallt war. Nachdem sie seine Papiere überprüft hatten, stellten sie zu ihrer Begeisterung fest, dass er einer der vielen gesuchten Männer war, die schon seit langem abgeschoben werden sollten. So landete er im Abschiebeknast. Er kannte die Spielregeln: Bevor die Abschiebung vollzogen wird, bekommt der Illegale noch die Möglichkeit, seinen letzten Aufenthaltsort aufzusuchen und seine Sachen einzupacken. Im Knast besuchte ihn ein Freund und brachte ihm ein paar Kleinigkeiten. Als die beiden sich verabschiedeten, flüsterte der Freund ihm zu: »Spring aus dem Fenster.«
    Einen Tag später, als mein Bekannter in Begleitung von zwei Polizisten zu seiner Wohnung in der Greifswalder Straße geführt wurde, wo sie ihm die Handschellen abnahmen, folgte er dem Rat seines Freundes und sprang vom zweiten

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