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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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nicht wie du die Bauernkinder von der Skrofulose heilen.«
    »Aber du könntest ihnen Lesen und Schreiben beibringen, denn wenn sie weiter in Unwissenheit und Schmutz dahinvegetieren müssen, werden uns die Ereignisse von 1905 bald wie eine Operette vorkommen. Du weißt, in der Geschichte wiederholt sich alles, zuerst als Tragödie, dann als Farce, aber bei uns in Rußland geht es manchmal auch andersherum.«
    »Bei uns lebt jede Generation in dem Gefühl, sie sei die letzte und morgen werde die Welt untergehen. Das schmeichelt dem Selbstbewußtsein, darin liegt eine besondere Wonne. Schach, Konstantin.«
    »Also das wollen wir erst noch sehen …« Baturin machte einen unüberlegten Zug mit dem Pferd, verlor die Königin und schlug sich vor Ärger aufs Knie. »Du richtest dich selbst zugrunde, Michail, es tut weh, dich anzusehen. Deine Krämerstochter frißt sich zu Tode, und du säufst dich ins Grab. Dumm ist das, eine wahre Schande.«
    »Das Grab blüht uns beiden«, sagte der Graf spöttisch grinsend, »je eher, desto besser.«
    »Das ist die Melancholie, die in dir gärt, die verfluchteSchwermut unseres russischen Adels, und seine Wurzel ist das Nichtstun.«
    »Ich bin so erzogen worden, Konstantin, daß ich viel weiß, aber nichts kann. Ich habe nichts gelernt.«
    »Hier, nimm Sonjas Skizzenbuch und den Farbkasten und male Landschaften.«
    »Wozu?«
    »Du hast mir deine Mappen gezeigt, und sie waren gar nicht schlecht.«
    »Das war in meiner Kindheit und Jugend, da geht einem sowieso alles leicht von der Hand. Aber was soll mir das jetzt?«
    »Einfach so, Michail. Für dich selber. Damit du nicht zum Trinker verkommst und den Verstand verlierst.«
    Der Schwiegervater besuchte Boljakino zweimal wöchentlich, wollte mit dem Grafen über Politik reden, über den Krieg auf dem Balkan, die Streiks der Arbeiter und die Sozialdemokraten, die er für die gefährlichsten von allen politischen Schwätzern hielt, aber der Graf brummte nur etwas Unverständliches und zuckte die Schultern, so daß der Kaufmann sich bald langweilte.
    Nach dem Mittagessen schlief Boljakin zwei Stunden, dann setzte er sich mit seiner Tochter zusammen, um mit ihr »Schwarzer Peter« zu spielen. Beim Spiel aßen beide mit lautem Knacken eine ganze Schüssel süßer Kringel und tranken schlürfend einen ganzen Samowar Tee aus.
    Jedesmal, bevor der Kaufmann wieder in sein blitzendes Automobil stieg, zwinkerte er dem Grafen zu und sagte leise: »Ich sehe, meine Irina ist dicker geworden, ihr Bäuchlein steht hervor. Wovon wohl, wüßte ich gern? Muß ich noch lange auf einen Enkel warten?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Graf mürrisch.
    »Ja, wer soll es denn wissen, wenn nicht du? Paß auf, inihrem Zopf schimmert es schon grau. Der Weiber Zeit ist kurz und läuft im Sauseschritt davon.«
    Die Zeit lief wirklich im Sauseschritt davon. Man schrieb das Jahr 1914. Der Juni ging zu Ende. Am achtundzwanzigsten schoß der Serbe Gavrilo Princip in Sarajewo auf den Erzherzog Franz Ferdinand, der gerade die Manöver der österreichisch-ungarischen Truppen in Bosnien besuchte.
    Morgens rieb sich der Graf nur mit Mühe den Schlaf aus den Augen, nach dem Frühstück legte er sich mit einer Zeitung oder einem Journal auf die Chaiselongue und merkte gar nicht, daß er eine ganze Stunde lang nur auf eine Zeile starrte und vor sich hin träumte. Dann stellte er sich vor – er geht übers Feld zur Bahnstation. In der Ferne hört man das tiefe, triumphierende Tuten der Lokomotive. An Gepäck hat er nur eine Garnitur Wäsche bei sich, sein Rasierzeug, einen Band Balmont, ein Päckchen Papirossy und das Kästchen mit der Brosche. Er setzt sich in einen Wagen der zweiten Klasse. Es dämmert. Vor ihm liegen Moskau, die Freiheit und ein völlig ungewisses Schicksal – Warschau, Paris, die Katorga, der Bettelstab, der Tod.
    Er schlummerte ein und träumte, wie er in die Küche schleicht, aus der untersten Schublade das Tütchen mit dem Pulver holt, mit dem die Köchin die Mäuse vergiftete, und beim Mittagessen seinen Inhalt in Irinas Teller mit der Hühnersuppe schüttet. Irina führt Löffel auf Löffel zum Mund und wischt dann mit einer Brotrinde die letzten Reste auf.
    Geweckt wurde er von der knarrenden Stimme der alten Stubenmagd: »Geruhen Sie bitte zum Essen zu kommen, Euer Erlaucht. Es ist aufgetragen.«
    Vor dem Essen pflegte der Graf ein Gläschen Kognak zu trinken, anfangs nur eins, dann zwei. Mit der Zeit schenkte er sich einfach so immer mal eins

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