Russische Orchidee
aus der Flasche ein, zwischen Mittagessen und Abendbrot, bei seinem NachbarnBaturin, wenn sie beim Schachspiel saßen oder ein düsteres, wortkarges Gespräch führten.
Nach dem Abendbrot mußte erst recht etwas getrunken werden, meist gleich drei Gläschen auf einmal. Der Kognak stieg ihm zu Kopf, und es fiel ihm bedeutend leichter, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, daß neben ihm im Bett nicht Irina lag, sondern die treulose rothaarige Margarita oder das Plappermäulchen Claire.
Trotz seiner lebhaften Phantasie wollten sich aber keine gräflichen Erben einstellen. Irina wurde einfach nicht schwanger. Ihre Körperfülle begann krankhaft zu werden, sie litt an Kurzatmigkeit. Die Ärzte jagten ihr mit den komplizierten lateinischen Bezeichnungen verschiedener Krankheiten Angst ein, verschrieben ihr eine strenge Diät aus Dickmilch, Roggenbrot und gekochtem Gemüse. Aber Irina zog allen Diäten ihre Pülverchen und Pillen vor. Die Ärzte stellten ihr bereitwillig Rezepte aus, die Kranke nahm eifrig alle Mittel, aber es ging ihr nicht besser. Der Schwiegervater besuchte sie nun noch öfter, er machte sich um seine Tochter Sorgen. Ihre Mutter war mit vierzig Jahren an einer durch Verfettung hervorgerufenen Herzkrankheit gestorben.
»Die Ärzte sind Betrüger«, sagte Irina beim Abendessen und legte sich die dritte Portion Schweinebraten auf den Teller.
»Es reicht, Irina«, bemerkte der Graf gleichgültig, »dir wird schlecht werden.«
»Recht hat er, Irina«, nickte Boljakin, »du ißt mächtig viel, du bist ja schon ganz in Schweiß gebadet.«
Der Abend war heiß, sie nahmen die Mahlzeit im Garten ein. Gleich hinter dem Garten begann der Eichenwald.
Die sechzehnjährige Gymnasiastin Sonja Baturina, schmal, blauäugig, mit einem langen schwarzen Zopf, radelte durch das Wäldchen. Die Räder hüpften über die Baumwurzeln,zwischen den dicken braunen Stämmen leuchtete ihr hellblaues Kleid auf.
Die Fahrradklingel ertönte, ein Strahl der Abendsonne blendete den Grafen für einen Moment, er zuckte zusammen, kniff die Augen zu und machte eine ungeschickte Bewegung mit dem Ellenbogen. Der Krug mit der Himbeergrütze, einer kompakten, blutroten Masse, fiel um. Ein tiefroter Fleck kroch über das weiße Tischtuch.
Kapitel 25
Der Milizhauptmann Wassili Sokolow hatte einen ungewöhnlichen, hypnotischen Blick. Eigentlich waren seine Augen klein, von einem schwer definierbaren Grünton, und keineswegs besonders ausdrucksvoll, aber der Hauptmann brauchte jemanden nur lange und starr anzusehen, und der Betreffende verstummte, begann unruhig hin und her zu rutschen, wurde manchmal sogar rot, als hätte man ihn bei irgendeiner ungehörigen oder ungesetzlichen Handlung ertappt.
Als Kind war Sokolow oft verprügelt und von den älteren Kameraden für alle möglichen kleinen Aufträge ausgenutzt worden. Seine Altersgenossen verachtete er, in seiner Klasse hatte er keinen einzigen Freund. Lieber wollte er zur Bande der Großen gehören, auch wenn er für sie nur ein flinker kleiner Laufbursche war.
Aufgewachsen war er in der berühmten Maljuschinka, einem Viertel, das schon im vorigen Jahrhundert als verrufene, kriminelle Gegend galt. Er lebte mit seiner Mutter und Großmutter zusammen, seinen Vater hatte er nicht gekannt. Die Mutter arbeitete als Stewardeß. Wenn sie von einem ihrer Flüge zurückkam, schlief sie sich zuerst einmal aus undbeschäftigte sich dann hauptsächlich mit sich selbst, ihrem eigenen, stürmischen Privatleben. Die Oma ließ Wassili alles durchgehen, ihre Hauptsorge war, »daß der Junge ordentlich aß«.
Als Sokolow dreizehn wurde, trank er zum ersten Mal Tschifir, den superstarken berauschenden schwarzen Tee, und nahm an dem sogenannten »Schraubenspiel« teil.
»Eine Schraube eindrehen« bedeutete, der Reihe nach eine neue Prostituierte zu benutzen, bevor sie losgeschickt wurde, um Geld für die ganze ehrenwerte Gesellschaft zu verdienen. Die ehrenwerte Gesellschaft war eine aus Jugendlichen im Einberufungsalter bestehende Bande unter dem Kommando des erwachsenen Rückfalltäters Pnyrja, die die gesamte Maljuschinka und auch die Prostituierten kontrollierte.
Das Mädchen hieß Glukose-Galja. Sie ging aufs Pädagogische Institut, wollte aber weder Kindergärtnerin noch Grundschullehrerin werden. Ihr gefiel die Maljuschinka, sie bummelte mit einem Rock bis zum Nabel und einem Ausschnitt bis zu den Knien über die Straße, und in der rundlichen, mit Rouge geschminkten Backe hatte sie
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