Russische Orchidee
Wind und Wetter, bei Kälte, Schnee und Regen fast nackt auf ihrem Posten, während er zufrieden im warmen Auto saß, sauber und unabhängig.
Jetzt aber waren diese Mädchen hundertmal glücklicher als er. Sie würde man wieder laufenlassen, im schlimmsten Fall mußten sie ein Bußgeld zahlen. Die würden hier nicht alt werden. Er jedoch saß fest.
Aus der Sache komme ich nicht mehr raus, dachte Sanja traurig. Die Pistole gehört mir. Meine Fingerabdrücke sind drauf. Ich bin am Tatort neben der Leiche eingeschlafen. Eine klare Sache, ein Routinefall für die Miliz.
Kapitel 3
»Ein Routinefall«, brummte Ilja Borodin, Hauptuntersuchungsführer und Chef der Kriminalabteilung bei der Bezirksstaatsanwaltschaft mit einem Seufzer, als er die neue Akte aufschlug.
Daß bei diesem Fall alles so sonnenklar war, ärgerte Borodin, kränkte ihn geradezu. Im Unterschied zur Mehrzahlseiner Kollegen liebte er komplizierte Fälle. Aber selbst wenn ihm in den langen Jahren seiner Arbeit hin und wieder Verbrechen begegnet waren, denen man nicht so einfach auf die Spur kam, es lief doch immer alles auf die gleichen langweiligen, abgeschmackten Motive hinaus: Geld, Wohnung, geschäftliche Rivalitäten.
Mit den wirklich aufsehenerregenden, skandalösen und bis heute nicht aufgeklärten Verbrechen hatte Borodin noch nie etwas zu tun gehabt. Übrigens wußte er, daß es auch da keine besonderen Geheimnisse gab. Nur mehr handelnde Personen, mehr Nullen bei den Geldbeträgen, größere Geschäfte, aber im Grunde die gleiche stumpfsinnige, gefühllose Geldgier, die gleichen niedrigen Beweggründe. Unaufgeklärt waren diese Verbrechen nicht deshalb geblieben, weil sie so geschickt eingefädelt und so wohldurchdacht waren, sondern weil niemand sie aufklären wollte – aus den gleichen niedrigen und pragmatischen Gründen, was wiederum ebenfalls ein Verbrechen war. So schloß sich der Kreis.
Die tägliche Routine, die Berge von Papier, die ermüdenden Verhöre – das alles hatte wenig mit den romantischen Vorstellungen vom Beruf des Untersuchungsführers gemein, die Borodin in seiner Jugend gehabt hatte. Er wußte sehr gut, daß er diese dummen, kindischen Illusionen im Grunde seines Herzens immer noch mit sich herumtrug, aber trennen wollte er sich von ihnen auch nicht.
Als er den Mordfall Butejko übernahm, begann sein Herz aufgeregt zu klopfen. Ein Fernsehjournalist. Eine bekannte Persönlichkeit. Wen hatte dieser Mann nicht alles mit Schmutz beworfen.
Vielleicht hatte Butejko belastendes Material ausgegraben oder mit seinem dreisten Geschwätz jemanden bloßgestellt? Oder endlich hatte jemand, zutiefst empört über den Unflat, mit dem Butejko Karriere gemacht hatte, beschlossen,Rache zu nehmen, seine Ehre zu verteidigen, zwar illegal, aber mit Stil. Vielleicht war dieser Mord eine Art Duell, so wie in den guten alten Zeiten, als eine Beleidigung nur mit Blut gesühnt werden konnte.
Borodin wurde vor Aufregung rot und wischte sich mit seinem karierten, gestärkten Taschentuch die Stirn ab. Im selben Moment fing er den spöttischen Blick des diensthabenden Untersuchungsführers auf, der ihm den Fall zur Bearbeitung übergeben hatte.
»Der Verdächtige wurde direkt am Tatort festgenommen, praktisch auf frischer Tat ertappt. Der Ermordete schuldete ihm dreitausend Dollar. Der Verdächtige, ein kleiner Geschäftsmann, ist durch die Wirtschaftskrise ruiniert worden und hat Butejko aufgefordert, ihm die Schuld zurückzuzahlen. Er hat ihm ein paarmal gedroht, sich dann vor Kummer besoffen, dem Opfer im Treppenflur aufgelauert und ihm aus unmittelbarer Nähe in den Kopf geschossen. Ein Routinefall.«
Die Freudenröte wich augenblicklich von Borodins runden Wangen, sein Gesicht wurde lang und bekümmert. Vergeblich bemühte er sich zu verbergen, wie enttäuscht er war.
Da war nichts zu machen. Vermutlich würde er bis zur Rente auf keinen würdigen Gegner treffen, auf keinen intelligenten Verbrecher vom Schlage eines modernen Rodion Raskolnikow.
Starke, echte Gefühle – Haß, Neid, Eifersucht, Liebe, Ehrgeiz, Idealismus – existierten entweder gar nicht oder waren irgendwo in der fernen Vergangenheit geblieben. In der Verwaltung machte man sich über Borodin lustig, nannte ihn Pinkerton oder Sherlock Holmes.
»Du solltest Romane schreiben«, spöttelten die Kollegen, »du phantasierst dir Sachen zusammen, die es nicht gibt. Das Leben muß man einfacher sehen.«
Aber Borodin mochte trotz seines gesetzten Alters, seinersoliden
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