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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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vorging. In ihrem Hals kratzte es so sehr, daß statt eines Schreis nur ein schwaches, heiseres Flüstern herauskam: »Papa!«
    Im selben Moment merkte sie, wie der Kaufmann erschlaffte. Mit aller Kraft bemühte sie sich, ihren Arm zu befreien. Tichon Boljakin war tot, aber er hielt Sonja immer noch gepackt. Seine Finger hatten sich verkrampft. Der Arzt hatte seine Tochter gefunden, versuchte die Finger des Kaufmanns aufzubiegen, konnte ihre Hand jedoch nicht befreien.
    »Es reicht!« brüllte der Feldscher, der hinzugekommen war, dumpf und hieb mit der Axt auf den toten Arm.
    Endlich hatten sich alle drei aus dem brennenden Haus gerettet. Es wurde bereits hell. Sonja konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Mit schrecklichem Krachen stürzte das Dach ein, die Funken flogen. Sonja verlor das Bewußtsein.

Kapitel 37
    »Es wird ein bißchen länger dauern«, sagte Lisa und gab ihrem Mann zum Abschied einen Kuß, »nach der Sendung muß ich mit dem Chef noch ein paar Dinge besprechen.«
    »Warum unbedingt mitten in der Nacht?«
    »Du weißt doch, beim Fernsehen gibt es keine Nacht.«
    Die vielen Lügen blieben ihr fast im Halse stecken. Genug, dachte sie ärgerlich, das war das letzte Mal.
    Und es waren nicht nur die Lügen. Sie hatte sich schon daran gewöhnt, sich alle möglichen wichtig klingenden Gründe dafür auszudenken, warum sie nicht um zwei Uhr nachts, sondern erst um sechs Uhr morgens nach Hause kam. Aber jetzt ertappte sie sich zum ersten Mal dabei, daß sie gar keine Lust hatte, zu Juri zu fahren. Sie wußte, daß sie dort ein lästiges, sinnloses Gespräch erwartete.
    In Ostankino wurde immer noch über den Tod von Artjom Butejko getratscht. Er war zwar nicht mehr das Gesprächsthema Nummer Eins, doch Lisas Erscheinen brachte die tragischen Ereignisse der vergangenen Woche wieder in Erinnerung. Sie spürte, daß man sie heimlich musterte.
    »Hat sich die Staatsanwaltschaft schon wegen Butejko an dich gewandt?« fragte sie der Chef der Nachrichtensendung. »Bestimmt hat denen schon irgendeine Giftspritze was über eure besonderen Beziehungen gesteckt.«
    Sie brachte ihre Sendung rasch hinter sich und setzte sich ins Auto. Es bereitete ihr Vergnügen, durch die leeren nächtlichen Straßen zu fahren. Den Weg wußte sie auswendig, so daß sie sich am Steuer entspannen konnte. Es war noch gar nicht lange her, ein paar Wochen erst, da hatte sie genau hier, an dieser Kreuzung am Ende der Scheremetjew-Straße, nachts an der Ampel gehalten und im Auto neben sich ein wohlbekanntes Profil gesehen. Als sie in der Nowokusnezkaja-Straße ankam, sah sie denselben Wagen wieder, und plötzlich war ihr der verrückte Gedanke gekommen, daß Artjom sie beschattete. Auch damals war sie gerade auf dem Weg zu Juri gewesen.
    Natürlich war er nicht recht bei Trost, aber doch wohl nicht in solchem Maße, hatte sie gedacht. Hat ihm die peinliche Show damals mit meiner Mutter nicht genügt?
    Als sie jetzt auf die Kreuzung zusteuerte, dachte sie wieder an Butejko. Wie dumm doch sein Leben eigentlich gewesen war und wie früh und unsinnig sein Tod. Viele hatten von ihm gesagt, eines Tages werde er sich noch »vergaloppieren«. Aber wegen dieser schmutzigen kleinen Geschichten hatte man ihn doch wohl kaum ermordet. In Ostankino munkelte man, ein Freund habe ihn wegen einer Geldschuld erschossen. Gut möglich. Er hatte immer auf Pump gelebt, sich bei allen Geld geliehen, es allerdings auch immer zurückgegeben.
    Wenn ein Mensch ums Leben kommt, den man nicht leiden konnte, über den man schlecht gedacht und geredet hat, ist das ein merkwürdiges, unangenehmes Gefühl. Man schämt sich, als sei man an seinem Tod mit schuld.
    Weshalb konnte ich Artjom eigentlich nicht leiden? Weil er ein Zyniker und ein dreister Flegel war? Aber Zyniker und Flegel gibt es beim Fernsehen mehr als genug. Weil er kein Talent hatte? Auch das ist eher die Regel als die Ausnahme. Früher war unser Verhältnis zueinander doch ganz normal, fast freundschaftlich. Aber seit dieser Talkshow mitder getürkten Geschichte hat er mich gehaßt. Und zu Recht. Ich habe ihm seine Premiere verdorben. Gut, er hat gepfuscht. Na und? Ist er da etwa der einzige? Ich hätte seinen Gast auch in Ruhe lassen können, besonders in einer Live-Sendung. Warum habe ich es nicht getan? Es muß doch einen Grund geben.
    Einen Monat vorher war im Magazin »Blitzlicht« sein Exklusivbeitrag über den Sänger und den Milizionär gebracht worden. Damals war er in aller Munde, sein Name

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