Russische Orchidee
anzugeben.«
»Hatte er einen Waffenschein?«
»Nein. Ich habe ihm gesagt, daß man die Pistole registrieren lassen muß. Wer weiß, was einem sonst blühen kann. Aber er wollte nicht, hat gesagt, Blödsinn, alle seine Bekannten hätten Waffen, und keine wäre registriert.«
»Ihr Mann scheint ja interessante Bekannte zu haben«, brummte der Anwalt. »Na gut, und der Ermordete, wissen Sie, wer das ist?«
»Nein!« Natascha starrte den Anwalt völlig entgeistert an und preßte mit einer raschen nervösen Bewegung die Hand vor den Mund. »O mein Gott … Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer mit Sanjas Pistole erschossen worden ist. Entschuldigen Sie, ich begreife erst jetzt, daß ich für ein Gespräch mit Ihnen gar nicht vorbereitet bin.«
»Soweit ich Sie verstanden habe, Natalja Wladimirowna, handelt es sich um einen komplizierten, verwickelten Fall, der aber nicht hoffnungslos ist. Leider muß ich jetzt aufbrechen, ich habe noch andere Termine. Ich denke, unser nächstes Gespräch wird schon weit fruchtbarer sein. Beruhigen Sie sich erst einmal, warten Sie, bis der erste Schock vorüber ist, und berichten Sie mir dann alles der Reihe nach.«
»Entschuldigung«, sagte Natascha verlegen, »ich habe mich wohl wirklich ziemlich verworren ausgedrückt. Aber ich möchte, daß Sie das Wichtigste verstehen: Mein Mann ist unschuldig. Er ist kein Mörder.«
»Darüber mache ich mir nicht die geringsten Sorgen«, sagte der Anwalt lächelnd.
»Was soll das heißen?! Lehnen Sie die Verteidigung von Sanja ab?« platzte Natascha heraus und schluckte krampfhaft, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber wie soll ich Sie dann verstehen?«
»Genauso, wie ich es gesagt habe. Wortwörtlich. Die Sache ist die, Natalja Wladimirowna, daß es mich gar nicht interessiert, ob Ihr Mann schuldig oder unschuldig ist. Ich habe andere Aufgaben. Ich bin Anwalt, nicht Untersuchungsführer oder Richter.«
»Soll das heißen, es ist Ihnen ganz egal, wen Sie verteidigen, einen Mörder oder einen Unschuldigen?«
»Genau.« Syslin lächelte. »Mir als professionellem Anwalt ist das egal.«
»Das kann nicht sein.«
»Warum nicht?«
»Aber das ist doch offensichtlich. Erstens ist es moralisch leichter, einen Unschuldigen zu verteidigen, und zweitens …« Sie wurde rot und stockte.
»Und zweitens?« Syslin legte den Kopf etwas zur Seite und blickte Natascha mit spöttischer Neugier an. »Sprechen Sie ruhig zu Ende, ich höre.«
»Die Wahrheit kann man leichter beweisen als die Lüge.«
»Das stimmt nicht. Die Wahrheit ist gewöhnlich viel schwerer zu beweisen als die Lüge. Die Wahrheit kann schmutzig und völlig unlogisch sein, sie ist spontan und verworren, besteht aus lauter dummen Zufällen und widerspricht oft dem gesunden Menschenverstand. Eine überlegte, bewußte Lüge dagegen ist eine schöne Frucht des menschlichen Intellekts. Sie ist viel attraktiver und überzeugender als die Wahrheit und deshalb auch leichter zubeweisen. Die Menschen glauben nur das, was sie glauben wollen.«
Natascha ärgerte sich allmählich etwas über seinen oberlehrerhaften Tonfall. Der Anwalt, so schien ihr, plusterte sich unnötig vor ihr auf und wollte ihr offenbar seine rhetorischen Fähigkeiten demonstrieren.
»Bevor wir uns weiter unterhalten, müssen Sie erst einmal einen Antrag schreiben, zwei Formulare ausfüllen und tausend Rubel in die Konsultationskasse einzahlen.« Er wühlte im Schreibtisch und reichte ihr mehrere Blätter. »Hier ist ein Musterantrag, und das sind die Formulare. Meine Dienste werden fünftausend Dollar kosten.«
»Ja, natürlich«, erwiderte Natascha automatisch, ergriff den Füller, aber da wurde ihr plötzlich ganz heiß, sie öffnete ihre Handtasche und klappte sie schnell wieder zu. »Entschuldigen Sie, ich habe mein Portemonnaie zu Hause vergessen.«
»Das ist nicht schlimm. Kommen Sie morgen früh vorbei. Wenn ich nicht da bin, zahlen Sie das Geld einfach an unserer Kasse ein, dort wird man alles für Sie regeln, und übermorgen beginnen wir unsere Arbeit.«
Schweißgebadet verließ sie das Anwaltsbüro. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Es war ein klarer, frostkalter Tag. Von der Kälte und der grellen Sonne traten ihr Tränen in die Augen, und durch den zitternden, regenbogenfarbigen Schleier konnte sie nichts mehr sehen. Sie rutschte auf einem spiegelglatten schwarzen Streifen Eis aus, verstauchte sich den Fuß, spürte aber keinen Schmerz. An
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