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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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der Kreuzung kreischten Bremsen auf.
    »Paß doch auf, wo du hinläufst, du blöde Kuh«, schrie der Fahrer eines Shiguli aus dem heruntergekurbelten Autofenster. »Bist du lebensmüde?«
    Wir haben kein Geld, wiederholte Natascha in Gedankenstumpfsinnig immer wieder. Wo soll ich fünftausend Dollar hernehmen? Fünfhundert Rubel, ja, die könnte ich mir von Mama leihen. Sanjas Mutter hat schon seit Monaten kein Gehalt mehr von ihrem Betrieb bekommen. Sanja selber hat ihr hin und wieder hundert oder zweihundert Dollar zugesteckt, aber trotzdem hatte sie kaum genug zum Leben. Bei unseren Freunden und Bekannten können wir uns auch nichts leihen, einfach deshalb, weil wir nicht wissen, wann und wie wir es zurückgeben können. Überflüssiges Geld hat heutzutage niemand. Ob ich mich an einen anderen Anwalt wende, der billiger ist? Aber ich kann ja auch den allerbilligsten nicht bezahlen.
    Natascha hatte ihrer Mutter versprochen, Dimytsch sofort nach dem Besuch beim Anwalt wieder abzuholen, aber sie hatte gar nicht gemerkt, daß sie statt dessen zu sich nach Hause gefahren war. Noch in ihren schmutzigen Stiefeln stürzte sie in die Küche. Dort lag auf dem Fensterbrett neben dem Telefon Sanjas Notizbuch. Natascha suchte die Nummer von Muchin heraus, nahm den Hörer ab, warf ihn aber gleich wieder hin.
    Wenn er in den Mord verwickelt ist, darf ich ihn auf keinen Fall anrufen. Andererseits – Sanja hat mich gebeten, gerade ihn anzurufen. Ja, aber er wußte ja nicht, daß Muchin vorgestern bei uns war.
    Und plötzlich erinnerte sie sich ganz deutlich, daß vorgestern abend die Pistole nicht in der Schublade gewesen war.
    Vorgestern war die Benachrichtigung gekommen, daß sie mit der Miete im Rückstand waren. Die alten bezahlten Rechnungen lagen in derselben Schublade wie die Pistole. Die Papiere waren durcheinandergeworfen, Natascha hatte versucht, sie wieder zu ordnen, und dabei automatisch registriert, daß die Pistole nicht da war. Sie hatte Sanja nochfragen wollen, wohin er die Walter gelegt hatte, aber da hatte Dimytsch sie abgelenkt, und später hatte sie nicht mehr an die Pistole gedacht.
    Sanja hatte die Waffe im Juni gekauft. Natascha redete ihm zu, sie zu verstecken und niemandem zu zeigen. Aber Sanja hatte sie zu seinen Bekannten mitgenommen und mit ihr angegeben wie ein kleiner Junge. Allerdings war er sein Spielzeug ziemlich bald wieder leid und deponierte es in der Schreibtischschublade. Es war schon lange her, daß er sie zum letzten Mal herausgeholt hatte; es muß im August gewesen sein. Ja, natürlich! Am zwölften August hatte er Geburtstag gefeiert und rund zwanzig Leute eingeladen, darunter auch Wowa Muchin.
    Natascha ging ins Wohnzimmer, setzte sich an den Schreibtisch und kniff die Augen zusammen. Vor ihr tauchte wieder diese blöde Fete auf, wie in Zeitlupe. Sie erinnerte sich noch so deutlich daran, weil es das erste Mal nach Dimytschs Geburt gewesen war, daß sie so viele Leute zu sich nach Hause eingeladen hatten.
    An dem Geburtstag hatte Natascha den Kleinen zu ihrer Mutter gebracht, aber die kam schon nach zwei Stunden mit ihm zurück. Dimytsch hatte sich kategorisch geweigert, die abgepumpte Milch aus dem Fläschchen zu trinken, und geschrien, bis er blau im Gesicht wurde. So saß denn ihre Mutter mit ihm in dem kleineren Zimmer, und in dem großen wurde gefeiert, gelärmt und getrunken, und Natascha rannte zwischen dem Kind und den Gästen hin und her. Übrigens hatte ihre Mutter bei dieser Gelegenheit Wowa Muchin gesehen und ihr, als sie gerade stillte, zugeflüstert: »Wie kann man nur einen so verboten aussehenden Kerl zum Freund haben?« Nachts, als die meisten Gäste schon gegangen waren, hatte Natascha Sanja und Muchin hier in diesem Zimmer am Schreibtisch angetroffen. Wowa betrachtete die Waltermit Kennerblick, zielte dann auf Sanjas Stirn und machte mit betrunkenem Grinsen: »Pach! Pach!«
    Muchin hatte also von der Pistole gewußt. War er deshalb am Vorabend des Mordes hier gewesen? Einen Nachschlüssel für ihre Wohnung zu bekommen dürfte nicht allzu schwer sein.
    »Also stimmt es wirklich, man will Sanja die Sache in die Schuhe schieben«, sagte sie halblaut zu sich selbst und sprang vom Stuhl auf. »Ja, natürlich. Muchin. Ich muß sofort den Untersuchungsführer anrufen … Nein, zuerst muß ich sehen, wie ich das Geld für den Anwalt kriege.«
    Sie rannte suchend im Zimmer umher und überlegte, ob sie etwas Wertvolles hätten, das man schnell für viel Geld verkaufen könnte.

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