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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Jahr vor Lisas Geburt Witwe geworden. Ihr Mann, ein Atomphysiker, der ein großes Geheimlabor geleitet hatte, war an Schilddrüsenkrebs gestorben, weil er bei Atomversuchen im Institut eine zu große Dosis radioaktiver Strahlung abbekommen hatte. Sein Foto hing bei der Großmutter über dem Sofa. Lisa guckte ab und zu in die Schreibtischschublade, holte ein schwarzes Samtetui mit den Orden und Medaillen des Großvaters heraus und spielte damit Piraten, die Schätze auf einer Insel verstecken. Sie wußte, daß sie sich dabei nicht erwischen lassen durfte, und schaffte es immer noch rechtzeitig, alles wieder wegzuräumen, die Schublade abzuschließen und den Schlüssel in einem der Porzellanschälchen auf der Anrichte zu verstecken. Die Oma merkte es kein einziges Mal, überhaupt nahm sie nicht viel um sich herum wahr, sie schrieb wissenschaftliche Artikel, betreute ein Dutzend Doktoranden und stürmte mit dem Tempo eines Sprinters durchs Leben, die verträumte kleine Lisa mit ihren Zöpfchen, die auf dem Weg in den Kindergarten immer aufgingen, hinter sich herschleifend.
    »Das nächste Mal wirst du dir die Zöpfe selber flechten«, sagte die Oma, während sie im Laufen die Dederonbänder zu Schleifen band. »Der Mensch hat die Pflicht, alles im Leben selbständig zu tun.«
    Mit vier Jahren konnte Lisa ihr Bett selber machen, zog sich ohne fremde Hilfe an und aus, wußte immer genau, wo ihre Hemden, Socken und Taschentücher lagen, und quälte die Oma nicht mit Fragen. Ganz ohne Ermahnungen putzte sie ihre Halbschuhe mit Guttalin und ihre weißen Stoffpantoffeln mit Zahnpulver.
    Im Sommer wurde Lisa manchmal von Tante Klawa, der Schwester ihres verstorbenen Großvaters, auf die Datscha geholt. Lisa liebte das alte zweistöckige Holzhaus mit der großen, verglasten Veranda. Das tausend Quadratmeter große Grundstück kam ihr vor wie eine Welt für sich. Dort rauschten die Flügel von Schmetterlingen, sirrten die Mücken wie winzige Geigen, zirpten die Grashüpfer, und im Himbeergebüsch am Zaun bewachten böse Brennesseln die zarten, in mattem Rubinrot schimmernden Beeren. Ende Juli flirrte über dem dichten dunklen Grün der Büsche das graublaue Schneegestöber des Löwenzahns.
    Lisa wußte, daß sich vor der Revolution hier das Adelsgut Baturino befunden hatte. Dort, wo das Grundstück in ein Eichenwäldchen überging, am Rande eines sumpfigen Tümpels, stand noch die runde steinerne Ruine eines Gartenpavillons.
    Oma Nadeshda fuhr selten auf die Datscha, die Eltern noch seltener. Von Mai bis September wohnten dort Tanta Klawa, ihr Sohn Waleri und ihre Schwiegertochter Soja. Eigene Kinder hatten sie nicht, mit der kleinen Lisa kamen sie nicht gut zurecht, mal waren sie übertrieben freundlich, dann regten sie sich wegen irgendeiner Kleinigkeit auf und wollten sie unbedingt erziehen. Den größten Teil des Tages blieb Lisa jedoch sich selber überlassen.
    Sie spürte, daß das Verhältnis zwischen den Erwachsenen schwierig, ja feindselig war, aber sie liebte das Holzhaus, den Garten, den Eichenwald dahinter und den silbrigglänzenden, froschreichen Tümpel am Ende des Grundstücks so sehr, daß sie sich bemühte, die Familienzwistigkeiten zu übersehen, und hartnäckig immer wieder auf die Datscha wollte. Daß man dort schlecht über die Oma redete, war ihr egal. Sie war und blieb für Lisa trotzdem die Schönste und Klügste auf der ganzen Welt.
    Leichtfüßig, zielstrebig, mit glänzenden, glatten Haaren in der Farbe von Zitronenbonbons, in hellen, schmalgeschnittenen Kleidern und auf spitzen Stöckelschuhen, nach verführerischem, teurem Parfum duftend, brachte die Oma sie früher als alle anderen in den Kindergarten, manchmal sogar noch bevor die Kindergärtnerinnen selber zur Arbeit kamen, und holte sie später als alle anderen wieder ab.
    »Du bist ein vernünftiger Mensch, du verstehst, daß ich in der Uni aufgehalten wurde«, sagte die Oma.
    Ihre Eltern sah Lisa nur selten und nahm sie nicht richtig ernst. Im sauberen, eleganten Wohnzimmer der Oma erschienen dann laute, schlecht gekleidete Geschöpfe, die nach Rauch rochen und deren Gesichter von Wind und Sonne dunkel waren. Papas zerzauster blonder Bart bewegte sich unangenehm, wenn er sprach oder kaute. Als sie sich einmal in der Küche über eins ihrer Abenteuer in der Taiga unterhielten, zog Mama aus der Tasche ihres Anoraks ein riesiges Klappmesser, öffnete damit eine Konserve mit Schmorfleisch, schnitt den Kanten vom Weißbrot ab und aß das Fleisch

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