Russische Orchidee
stinkenden Schuppen. Lisa stellte ihre Taschen mit Lebensmitteln wortlos ab und ging wieder. Alles brach zusammen, das unsichtbare Seil unter ihren Füßen riß. Sie stürzte in den Abgrund, und niemand war da, der sie auffing. Michail schätzte sie als ausgeglichenen, zuverlässigen, selbständigen Menschen, als verständnisvolle Partnerin, die sich niemals erlauben würde, seine Ruhe mit ihren Problemen zu stören. Und enge Freunde, vor denen sie sich ihrer Tränen nicht geschämt hätte, gab es nicht.
Lisa lebte weiter wie mit eingeschaltetem Autopiloten undgestattete sich nicht eine Minute der Schwäche. Nichts hatte sich in ihrem Verhalten geändert, sie war immer noch genauso leistungsfähig, zuverlässig, freundlich. Nur manchmal wurde ihr Blick starr und schien gleichsam zu vereisen. Die blauen Augen wurden fast weiß, blickten ins Leere und sahen nichts als Finsternis und Chaos.
Witja wuchs heran, er wurde ein intelligenter, aufgeweckter Junge. Mit vier Jahren kannte er alle Buchstaben, mit fünf konnte er nach Silben lesen. 1988 kündigte Michail Beljajew seine Stelle beim Museum und eignete sich in kurzer Zeit umfangreiche Computerkenntnisse an. Da er außerdem perfekt Englisch und Deutsch sprach, bekam er eine Stelle in einer neu eröffneten russisch-österreichischen Computerfirma, wo er gut verdiente und oft ins Ausland reiste.
Lisa schrieb weiterhin Zeitungsartikel und erwarb sich einen Namen als politische Kommentatorin. Man lud sie immer häufiger in Fernseh-Talkshows ein; heiße Live-Diskussionen waren damals gerade große Mode. Jelisaweta Beljajewa wurde sofort zum Publikumsliebling. Sie sprach überzeugend und klug, benahm sich vor der Kamera ganz ungezwungen und war ausgesprochen telegen. Bald bot man ihr an, regelmäßig als Beraterin für ein beliebtes Politmagazin zu arbeiten.
Eines Tages nannte ein bekannter Politiker sie in einem Interview »das netteste Gesicht im heutigen Fernsehen«. Ein beliebter Filmschauspieler sagte, als man ihn bei irgendeinem Festival im Foyer abfing, auf die Frage des Journalisten, was er von den heutigen Fernsehmoderatoren halte, daß ihm Jelisaweta Beljajewa am besten gefiele und er sich jeden Donnerstag irgendeine alberne Sendung für Jugendliche anschaue, nur um sie zu sehen. Er verzog das Gesicht und schnippte mit den Fingern, als er versuchte, sich an den Titel der Sendung zu erinnern.
»Aber die Beljajewa ist keine Moderatorin«, bemerkte der Journalist, »sie ist Expertin, Kommentatorin, Beraterin.«
»Na und, was macht das für einen Unterschied?« Der Schauspieler strahlte in die Kamera. »Sie ist die einzige, die man sich ansehen und anhören kann.«
Das Ende vom Lied war, daß man Lisa Knall auf Fall aus der Sendung warf mit der Begründung, sie hätte die Konzeption nicht richtig verstanden.
Lisa verbot es sich, aus diesem Anlaß zu leiden. Sie war im vierten Monat schwanger und mußte ihre Nerven schonen. Außerdem plante gerade ein bekannter Regisseur eine historische Fernsehserie und hatte sie gebeten, ihn dabei zu beraten.
Ihre Tochter nannte sie Nadeshda, zu Ehren der Oma. Mehrere illustrierte Magazine brachten große Fotoreportagen darüber, daß die bekannte und allseits beliebte Jelisaweta Beljajewa Mutter einer kleinen Nadja geworden war.
Inzwischen erlitt ihr Vater einen Herzinfarkt und kam auf die Intensivstation. Ihre Mutter hörte eine Zeitlang auf zu trinken, wurde wieder energischer, schlanker, zog Jeans und Turnschuhe an und besuchte regelmäßig ihre Enkel. Vor ihren Besuchen wurde jeder Tropfen Alkohol, der sich im Haus befand, im hintersten Winkel versteckt. Die Mutter trank ganz gesittet starken Kaffee, rauchte auf dem Balkon, war mitunter ganz erpicht darauf, die Windeln zu waschen, und vergaß dabei jedesmal, daß Michail für die kleine Nadja im Devisen-Supermarkt das kaufte, was man getrost eine der größten Errungenschaften der westlichen Zivilisation nennen darf – Pampers.
Aus dem Krankenhaus verlegte man den Vater in ein teures Sanatorium vor den Toren Moskaus. Dort kam er wieder zu Kräften, aber kaum kehrte er nach Hause zurück, war alles wieder beim alten. Die Genesung mußte natürlich gefeiert werden, das gemeinschaftliche Besäufnis dauerte einevolle Woche und endete mit einem zweiten Infarkt. Diesmal gelang es nicht mehr, ihn zu retten. Die Mutter trank nun allein.
Nadja wurde größer, und Lisa kehrte zum Fernsehen zurück. Bei Kanal Eins hatte wieder einmal die Leitung gewechselt, Jelisaweta Beljajewa
Weitere Kostenlose Bücher