Russische Orchidee
dann zum Auto geschleift, zum Haus von Butejko gefahren, neben die Treppe gelegt und seine Finger auf die Pistole gedrückt. Das Muskelpaket wußte, um wieviel Uhr Butejkos Sendung zu Ende ist, und hat zeitlich alles ziemlich genau berechnet. Aber er wußte nicht, wie er den Knall des Schusses verbergen sollte. An der Walter kann man keinen Schalldämpfer anbringen. Im Treppenhaus hört man alles, und obwohl es Nacht war, hätte es doch sein können, daß jemand nicht schläft und auf den Lärm hin zur Tür hinausschaut oder zumindest durch den Spion. Da hat er sich den Trick mit den Böllern ausgedacht. Wenn auf dem Hof direkt unter den Fenstern eine ganze Kanonade kracht, dann wird kaum jemandem ein Schußim Treppenhaus auffallen. Aber so originell diese Idee auch ist – gerade sie ist der rote Faden, an dem man ziehen und das ganze Knäuel entwirren kann. Übrigens hat jede Inszenierung, auch die allerraffinierteste, immer ihre Schwachpunkte. Man muß zu viele Details berücksichtigen. Der Komplize, der im Hof die Böller abgefeuert hat, ist gleich von drei Zeugen bemerkt worden. Ohne diese Böller wäre Anissimow vermutlich auch unser einziger Verdächtiger geblieben.«
Kossizki trank endlich seinen schon kalt gewordenen Tee und machte sich über die Kohlpirogge her, die noch einsam auf dem Teller lag. Borodin redete zwar mehr als der Hauptmann, brachte es aber trotzdem fertig, gleichzeitig Tee zu trinken und seine Hähnchenleberpirogge samt den Butterbroten aufzuessen.
»Aber haben Sie nicht gesagt, daß Anissimow und der Mörder sich möglicherweise ebenfalls kannten? Wir wissen, daß es Muchin war, der ihn ins Restaurant eingeladen hat. Der zweite Mann war dieses Muskelpaket. Wenn sie sich schon vorher getroffen haben, muß Anissimow den Mörder kennen.«
»Wahrscheinlich kennt er ihn«, stimmte Borodin zu.
»Und wie kann das sein?«
»Anissimow ist in das Restaurant zu einem Geschäftsessen mit einem Mann gegangen, den er, so glaubte er, vorher niemals gesehen hatte. Er war darauf eingestellt, auf einen deutschen Geschäftsmann namens Ernest Klimow zu treffen, und keineswegs darauf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wo er Klimow früher schon mal gesehen hatte. Außerdem könnte diese frühere Begegnung lange zurückliegen und nur flüchtig gewesen sein, das Licht im Restaurant war sicher ziemlich schummrig, der Mörder könnte sein Äußeres verändert haben und so weiter.«
»Das heißt, Sie glauben, von Anissimow werden wir keine konkreten Informationen über diesen Kraftmeier Klimow bekommen? Na schön, aber was ist mit Muchin? Den zumindest könnten wir doch jetzt festnehmen. Seine Fingerabdrücke sind bestimmt mit denen identisch, die auf dem Schmuckkästchen in Anissimows Wohnung und auf der Schreibtischschublade, in der die Pistole lag, gefunden wurden.«
»Hör mal, Hauptmann, was willst du mir weismachen?« sagte Borodin grinsend.
»Wieso? Sie haben doch selber gesagt, dieser Muchin ist ein Schwächling. Der klappt sofort zusammen und nennt uns den Mörder …«
» … den man dann noch zehn Jahre lang suchen muß. Ich würde mich nicht wundern, wenn Ernest Klimow in Wirklichkeit ganz anders heißt und überhaupt kein Geschäftsmann aus Deutschland ist.«
Kapitel 11
Lisa war 1959 geboren. Ihre Eltern studierten damals im vierten Semester am Institut für Geologie. Beide waren achtzehn, und ihr Beruf, der in jenen Jahren ausgesprochen modern war, bedeutete ihnen mehr als alles andere auf der Welt, genauer gesagt, die Atmosphäre von Kino-Romantik, die ihn umgab. Mit Rucksack und Gitarre im Fernzug auf weiter Fahrt – das war das wahre Leben, alles übrige wurde verächtlich als Spießerexistenz abgetan.
Lisas Mutter bekam beim Anblick eines Waschtrogs mit schmutzigen Windeln Depressionen, ihrem Vater grauste es vor manierlichen Spaziergängen mit dem Kinderwagen durch den Park. Sie zankten sich fürchterlich, undwahrscheinlich wäre die junge Familie schon in den ersten beiden Lebensmonaten der kleinen Lisa auseinandergefallen, wenn nicht Oma Nadeshda zu Hilfe gekommen wäre, die Mutter ihrer Mutter, die damals erst vierzig war. Mit vereinten Kräften standen sie die ersten zwei Jahre durch und gaben das Kind dann in eine Krippe. Oma Nadeshda ließ die romantischen Eltern in die weite Welt ausschwärmen. Bis Lisa sieben Jahre alt war, lebte sie bei ihrer jungen, energischen Großmutter, einer promovierten Chemikerin, die als Dozentin an der Universität arbeitete.
Die Oma war ein
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