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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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direkt aus der Büchse, wobei sie mit dem Messer große Stücke aufspießte.
    »Olga, du bist hier nicht in der Taiga«, sagte die Oma leise, und Lisa erinnerte sich ihr ganzes Leben lang an das Gesicht, das sie dabei gemacht hatte.
    Ihre Eltern hielten sich nie sehr lange in Moskau auf, und wenn es doch einmal geschah, dann verwandelte sich die kleine Zweizimmerwohnung in Nowyje Tscherjomuschki füreine Woche in die Niederlassung einer geologischen Expedition. Mitten im Wohnzimmer wurde ein Zelt ausgebreitet, und Mama flickte es, auf dem Fußboden sitzend, mit Zwirn. Im Nebenzimmer reparierte Papa den Kajak. Bärtige Jünglinge in grobgestrickten Pullovern kamen, sportlich aussehende Mädchen standen auf dem Balkon und rauchten. Die ganze Zeit klimperte jemand auf der Gitarre und sang Lieder von der Taiga. Die kleine Lisa wollte immer zurück zur Oma.
    Die Eltern fühlten sich in der Stadt nicht wohl. Mit dem schwierigen Leben in der freien Natur kamen sie dagegen sehr gut zurecht. In den Steppen Kasachstans, auf Kamtschatka und den Kurilen, in der ostsibirischen Taiga konnten sie ein Lagerfeuer mit einem einzigen Streichholz anzünden, bei strömendem Regen in zehn Minuten ein Zelt aufstellen, wasserdichte Hütten aus Tannenzweigen bauen und Kochtöpfe aus Birkenrinde herstellen.
    Als Lisa sieben wurde, übergab die Oma sie mit gutem Gewissen ihren Eltern, denn ein Kind muß dort zur Schule gehen, wo es gemeldet ist, und außerdem hatten sich die Lebensumstände der Oma geändert. Sie wollte einen ihrer Doktoranden heiraten, sie saß an ihrer Habilitation, würde bald einen Lehrstuhl bekommen und keine Minute freie Zeit mehr haben, und überhaupt war das Kind ja schon groß und völlig selbständig.
    Je älter Lisa wurde, desto ähnlicher wurde sie ihrer Großmutter Nadeshda. Ihr Tag war auf die Minute genau eingeteilt, ihre Kragen und Manschetten an der braunen Schuluniform waren stets schneeweiß, das rote Halstuch perfekt gebügelt, die Schuhe blitzblank geputzt, die hellen, aschblonden Haare seidig glatt gebürstet und zu einem festen, ordentlichen Zopf geflochten.
    Von außen sah es so aus, als ob ihr alles leicht und mühelos gelänge. Niemand hätte vermutet, daß dieses vernünftige,ordentliche, immer lächelnde Mädchen lebte, als balanciere es auf einem Seil über dem Abgrund, und jeder unsichere Fehltritt könne es das Leben kosten. Lisa konnte sich nicht den kleinsten Fehler verzeihen. Sie regte sich über jeden Fehler auf, haßte sich selbst dafür und machte sich das Leben zur Hölle. Wegen einer Kleinigkeit, einer Drei im Zeugnis, konnte sie ernsthaft krank werden und hohes Fieber bekommen. Etwas nicht zu verstehen, nicht zu bewältigen kam für sie einer tiefen Kränkung gleich.
    Gleich nach der zehnten Klasse ging sie an die Universität. Die Aufnahmeprüfungen bestand sie mit »sehr gut«, ohne das für eine besondere Leistung zu halten. Anders durfte es einfach nicht sein. Auf der Universität hatte sie wie in der Schule keine engen Freunde. Ihre Kommilitonen benahmen sich ihr gegenüber so, als wäre sie zwanzig Jahre älter. Man respektierte sie, man hörte auf sie, sie war die Anführerin, weil sie niemals Fehler machte und sich über die Fehler der anderen nicht freute. Immer fand sie einen Ausweg aus schwierigen Situationen, nicht nur für sich, sondern auch für die anderen, und das völlig uneigennützig. Zu allen war sie freundlich, aber niemanden ließ sie näher als bis auf Armeslänge an sich heran.
    Eine perfekte Figur, eine makellose Haut, ebenmäßige, klare Gesichtszüge, volles aschblondes Haar, große blaue Augen – mit all diesen großzügigen Gaben der Natur hätte sie eine verführerische Schönheit, eine femme fatale werden können, aber sie wurde es nicht, weil es sie nicht interessierte.
    »Schön bist du ohne alle Anstrengung, das ist nicht dein Verdienst, also ändert es in deinem Leben nichts«, sagte Oma Nadeshda zu ihr. »Was man umsonst bekommt, ohne sich dafür anzustrengen, hat keinen echten Wert. Eine Frau, die alles auf ihr Aussehen setzt, verliert gewöhnlich, wenn nicht heute, dann morgen.«
    Ihre verliebten Kommilitonen betrachtete Lisa mitfreundlich-spöttischem Mitleid. Die leidenschaftlichen Affären, Treuebrüche, Intrigen, die Abtreibungen, frühen Heiraten und Scheidungen berührten sie nur dann, wenn einer der Leidtragenden zu ihr kam, um sich bei ihr auszuweinen. Und je mehr fremde Tränen sie erlebte, desto fester wurde ihre Überzeugung, daß sie

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