Russische Orchidee
selber sich niemals verlieben würde. Hinter dem Glanz verliebter Augen sah sie die Schatten ungelöster, erniedrigender Probleme. Sie bewegte sich weiter vorsichtig auf dem Seil über dem Abgrund, jeden Schritt sorgfältig im voraus abschätzend.
Sogar in ihren eigenen Mann war Lisa nicht einen Augenblick lang verliebt gewesen. Er war nur einfach der klügste und zuverlässigste von allen Anwärtern auf ihre Hand und ihr Herz.
Kennengelernt hatte sie Michail Beljajew im Archiv des Revolutionsmuseums. Sie war zwanzig, hatte gerade das sechste Semester hinter sich, schrieb eine Seminararbeit über die revolutionäre Volkspartei der Narodowolzen und wandte sich auf Empfehlung ihres Professors an einen Fachmann für die Geschichte dieser Partei aus dem 19. Jahrhundert, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum arbeitete. Das war Michail Beljajew.
Der dreißigjährige Intellektuelle war schweigsam, breitschultrig, sah freundlich, aber ein wenig von oben herab auf Lisa und behandelte sie wie ein verwöhntes kleines Kind. Niemand auf der ganzen Welt, einschließlich ihrer Eltern und ihrer Oma, hatte jemals ein Kind in ihr gesehen.
Einige Tage nachdem sie sich kennengelernt hatten, saßen sie bis zum Ende der Öffnungszeit im Archiv des Museums. In den hallenden Sälen war kein einziger Mensch mehr außer ihnen.
»Lassen Sie uns eine Kleinigkeit essen und dann weitermachen«, sagte er und holte aus seiner Aktentasche eineTüte mit Butterbroten. Vier Brote, und alle mit Räucherkäse, den Lisa seit ihrer Kindheit nicht ausstehen konnte. Michail sah es sofort an ihrem Gesichtsausdruck, obwohl sie überzeugt war, daß sie sich nichts hatte anmerken lassen.
»Sie mögen keinen Räucherkäse?« fragte er ernst, als handele es sich um etwas sehr Wichtiges und Bedeutsames.
»Nein«, gab Lisa zu, »ich mag ihn nicht.«
»Welchen Käse essen Sie denn gern?«
»Schweizer Käse. Den mit den großen Löchern. Aber den gibt es nur auf Bestellung oder in Sonderläden.«
Michail schnitt mit einem kleinen Messer ein paar exakte runde Löcher in die Käsescheibe und reichte Lisa das Butterbrot: »Bitte sehr, Schweizer Käse.«
Lisa spürte, daß sie in den nächsten Jahren kaum einem Besseren begegnen würde als ihm, und war überhaupt nicht erstaunt, als er ihr vorschlug zu heiraten.
Für alle waren sie das ideale Paar. Beide gingen Konflikten möglichst aus dem Wege und wurden leicht mit allen Schwierigkeiten fertig, die im Zusammenleben von zwei Menschen nicht zu vermeiden sind. Beide waren korrekt, vernünftig, verantwortungsbewußt und schätzten einander, weil sie wußten, wie selten es solche Menschen wie sie auf der Welt gibt.
Lisa beendete das Studium mit Auszeichnung, und einige Monate später wurde ihnen ein gesunder, kräftiger Sohn geboren – Witja. Michail Beljajew arbeitete weiter im Museum, bekam immer weniger Geld dafür, aber auch das wurde nicht zum Problem. Lisa gelang es, ein Doktorandenstipendium zu ergattern und mit dem kleinen Kind auf dem Arm noch Geld zu verdienen. Sie schrieb nachts bissige Artikel für die gerade tonangebenden Zeitungen und Zeitschriften, beriet Filmregisseure, die historische Filme drehten, und sammelte nebenher noch Material für ihre Dissertation. Sie kam mitfünf Stunden Schlaf aus, und nicht ein einziges Mal, selbst wenn sie hundemüde war, fuhr sie aus der Haut und schrie ihren Mann an.
Je älter sie wurde, desto deutlicher spürte sie, wie das unsichtbare Seil unter ihren Füßen nachgab. Oma Nadeshda starb. Ihr Vater erfror sich in der kasachischen Steppe Hände und Füße, und man amputierte ihm in einem kleinen Provinzkrankenhaus die rechte Hand und den linken Fuß. In Moskau fertigte man Prothesen für ihn an, aber sein Leben war ruiniert, er alterte vorzeitig und begann zu trinken. Die Mutter kümmerte sich anfangs rührend um ihn und war sehr tapfer, pflegte ihn, versuchte ihn aus seinen tiefen Depressionen und vor dem drohenden Alkoholismus zu retten, hielt aber nicht durch. Eine Weile lebte sie mit einem anderen Mann, kehrte jedoch bald wieder zu ihm zurück und trank nun zusammen mit ihm.
Lisa klapperte sämtliche bekannten und unbekannten Suchtspezialisten Moskaus ab und las Berge medizinischer Fachliteratur, doch aus dieser ganzen Flut von Informationen zog sie nur einen einzigen Schluß: Sie konnte ihren Eltern nicht helfen. Man kann mit dem Trinken nur dann aufhören, wenn man selbst es will.
Die Wohnung in Tscherjomuschki verwandelte sich in einen
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