Russische Volksmaerchen
Iwan, russischer Ritter, willst du Todt oder Leben haben?« – Da bat Fürst Iwan, der russische Ritter: Herr Jeruslan Lasarewitsch, sei mir der ältere Bruder; gib mir nicht den Tod, sondern schenke mir das Leben.«
Jeruslan stieg von seinem Rosse ab, nahm den Fürsten Iwan, den russischen Ritter, bei der rechten Hand, hob ihn auf, umarmte und küßte ihn, und nannte ihn den jüngsten Bruder; dann setzten sie sich auf ihre guten Rosse und ritten zu dem weißen Zelte. Sie ließen ihre beiden Rosse zu einem Futter, und gingen selbst in das weiße Zelt und fingen an zu essen, zu trinken und Kurzweil zu treiben. Und als Jeruslan Lasarewitsch lustig wurde, sagte er zu seinem Bruder: »Mein Herr Bruder, Fürst Iwan, russischer Ritter, ich spazierte im freien Felde, und traf auf zwei erschlagene Heere.« – Da antwortete Fürst Iwan, der russische Ritter: »Mein Herr Bruder, Jeruslan Lasarewitsch, das erste Heer des Zaren Feodul, des Drachen, habe ich getödtet, weil ich mich um seine Tochter, die schöne Prinzeß Kandaula Feodulowna, bewarb; und ich will sie mit Gewalt nehmen, denn man sagt, daß es solche Schönheit auf der Welt nicht gebe. Morgen werde ich mit ihm die letzte Schlacht haben, und du, Jeruslan Lasarewitsch, kannst Zeuge meiner Tapferkeit sein.« Dann legte er sich schlafen. Den folgenden Morgen stand Fürst Iwan, der russische Ritter, früh auf, sattelte sein gutes Roß und ritt zu dem Reiche des Feodul, des Drachenzaren, und Jeruslan Lasarewitsch ging zu Fuße, und stellte sich an einen verborgenen Ort unter eine Eiche, um der Schlacht zuzusehen.
Darauf rief Fürst Iwan, der russische Ritter, mit lauter Stimme, und Zar Feodul, der Drache, befahl in die Trompete zu stoßen, und ein Heer von hunderttausend tapfern Männern zu sammeln, und sein ganzes Heer bestand aus drei Mal hundert tausend Mann. Zar Feodul, der Drache, ritt dem Fürsten Iwan, dem russischen Ritter, in zarischer Kleidung entgegen, und vor ihm und hinter ihm gingen so viel Leute, daß sie sich nicht zählen ließen. Fürst Iwan, der russische Ritter, nahm den Schild in die eine Hand, und die Lanze in die andere. Wie der Falk auf Gänse, Schwäne und graue Enten stürzt, so stürzte Fürst Iwan, der russische Ritter, auf die große Macht, von welcher sein Roß doppelt so viel zu Boden trat, als er mit dem Schwerte niederhaute. Und er erschlug das ganze Heer, und nur den Alten und den Jungen ließ er das Leben, die ihm nicht widerstehen konnten, und den Zaren Feodul, den Drachen, machte er zum Gefangenen und gab ihm bösen Tod. Dann eilte er in sein Reich und nahm die schöne Prinzeß Kandaula Feodulowna. Er faßte sie bei den weißen Händen, küßte sie auf die süßen Lippen, und führte sie in sein weißes Zelt. Jeruslan Lasarewitsch kam auch bald dahin, und sie fingen an zu essen, zu trinken und Kurzweil zu treiben. Dann befahl Fürst Iwan, der russische Ritter, der schönen Prinzeß Kandaula Feodulowna das Bett zu machen; darauf legte er sich mit ihr schlafen, fing an, sie zu liebkosen und bei dem weißen Busen zu nehmen.
Jeruslan Lasarewitsch ging aus dem Zelte fort. Da sprach Fürst Iwan, der russische Ritter, zu ihr: »Meine geliebte und schöne Prinzeß, sage mir, gibt es in der Welt eine schönere, als du, und einen tapferern Ritter, als meinen Bruder Jeruslan Lasarewitsch? Ich bin viel herum gezogen und habe keine bessern gefunden, als du bist.« – »Nein,« antwortete die schöne Prinzeß Kandaula Feodulowna, »es gibt schönere, als ich bin. Im freien Felde ist ein weißes Zelt, und in dem Zelte sind drei Schwestern, die Töchter des Zaren Bugrigor. Mit Namen nennen sie sich die älteste Prodora, die mittelste Tiwobriga, die jüngste Legia. Diese sind zehn Mal besser, als ich; ich bin gegen sie nur, wie die Nacht gegen den Tag. Als ich bei meinen Aeltern war, war ich noch schön, aber jezt ist mein Leib von Gram abgezehrt. Und es steht an dem indischen Reiche am Wege ein Ritter bei dem Zaren Dalmat. Dieser Ritter nennt sich Iwaschka Weißmantel Sarazenenmütze. Ich habe von meinem Vater gehört, daß er schon drei und dreißig Jahre das indische Reich bewacht, und daß kein Fußgänger bei ihm vorüber ging, kein Ritter vorüber ritt, kein Thier vorbeilief und kein Vogel vorbeiflog, und ich weiß nicht, wer von ihnen tapferer ist, denn ich habe von der Tapferkeit des Jeruslan Lasarewitsch noch nichts gehört.« –
Jeruslan Lasarewitsch hatte diese ganze Rede gehört, und sein Ritterherz ertrug es nicht. Er trat in das
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