Russisches Abendmahl
ausstrecken und bogenförmig um ihre Knöchel fahren muss. Es zieht ihr die Füße unter dem Boden weg. Der Lauf rutscht aus meinem Nacken, als sie mit den Armen rudernd das Gleichgewicht verliert. Im Schwung meines Hakens gelingt es mir, das Gewehr zu packen - eine 300er WinMag - und ihr den Kolben übers Gesicht zu ziehen. Ihr Kopf fliegt zurück. Sie kracht neben mir zusammen. Das Blut strömt unter ihrem Wangenknochen hervor, rote Linien bilden sich um die Zähne in ihrem offenen Mund, aber sie ist noch bei Bewusstsein. Tränen der Frustration vermischen sich mit dem Blut zu rosigen Rinnsalen.
Ich richte den Lauf auf ihr linkes Auge. »Peter ist tot«, sage ich und warte auf eine Reaktion.
Nichts. Ihr Gesicht könnte genauso gut aus Stahl sein. Hinter mir sind Schritte auf der Treppe zu hören. Ihr Blick flackert über meine Schulter und leuchtet dann erleichtert auf. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Soldaten da sind.
»Nehmen Sie die Waffe runter!«, ruft einer von ihnen. Die anderen stampfen heran und verteilen sich, um mich besser ins Visier nehmen zu können.
Posnowa verzieht ihre Lippen zu einem siegessicheren, blutroten Grinsen. Sie war Peter nie besonders nah, deswegen kann sie nicht wissen, dass ich noch beim Militär bin.
»Ich bin Oberst Alexei Volkowoj«, sage ich, ohne mich umzudrehen.
Das schwere Krachen hinter mir sagt mir, dass die Soldaten die Kolben ihrer Gewehre aufgesetzt haben. »Zu Befehl, Herr Oberst«, sagt derselbe Mann wie vorher, nur dass seine Stimme jetzt weniger bestimmt klingt. Wahrscheinlich salutiert er.
Posnowas Augen weiten sich vor Schock. Sie wandern zwischen den Soldaten und mir hin und her.
Unter Schmerzen richte ich mich auf. »Was war das zwischen dir und Valja?«
Posnowa ist noch zu sehr überrascht von der Reaktion der Soldaten, um sich irgendeine böse Lüge auszudenken. Aber wie so häufig schmerzt die Wahrheit mehr als alles andere. »Sie ist noch jung. Sie dachte, ich würde etwas für sie empfinden.« Posnowa grinst. Offenbar ist sie schon wieder gut genug beisammen, um mich verletzen zu wollen. »Vielleicht sah sie in mir die Mama, die sie nie hatte.«
Es ist, als würde ich den Killer in mir niemals bezwingen können, als wäre ich unfähig, den mir vorgeschriebenen Pfad zu verlassen und ein besserer Mensch zu werden. Rational gesehen ist es einfach - sie wollte mich töten, sie ist schuld an Valjas Verstümmelung, es kann keine Rettung für sie geben. Aber die Wahrheit ist, dass ich es bin, für den es weder Mitleid noch Vergebung gibt.
Der Lauf der WinMag bricht ihr die Zähne, als ich ihn ihr in den Mund stopfe. Ich warte kurz, bis ich die schreckliche Gewissheit in ihren weit aufgerissenen Augen sehe. Als ich mir sicher bin, dass sie weiß, was jetzt kommt, drücke ich ab und lasse es Hirn und Knochen regnen.
45
Schatten neigen sich und tanzen über die Steine. Geräusche verklingen und kommen dröhnend aus dem Nichts. Der Klostergarten unter mir dreht sich. Irgendwie gelingt es mir, aus dem Glockenturm und auf den Hof zu taumeln. Als ich durch meine blutverklebten Augen blinzle, sehe ich vor mir die Streifen einer Uniform das Mondlicht reflektieren.
»Hauptmann Dubinin meldet sich zur Stelle«, brüllt die Gestalt. Der Hauptmann drückt die breiten Schultern durch. Sein borstiger Schnurrbart droht mir übers Gesicht zu schrubben, aber ich weiß, dass das nur Einbildung ist. Er steht etwa einen Meter entfernt. Er salutiert und steht stramm, bis ich eine halbherzige Bewegung mache, die er als Erwiderung seines Grußes zu verstehen scheint. »Zu Ihren Diensten«, bellt er.
Ich zucke zusammen. »Seien Sie nicht immer so verdammt förmlich, Dubinin.«
»Sehr wohl, Herr Oberst«, beendet er den Salut.
Priester, Nonnen, Hausmeister und Polizisten laufen umher und reden durcheinander, wie Menschen es tun, wenn sie Angst haben. »Sagen Sie den Leuten, sie sollen verschwinden.«
Dubinin brüllt laut Befehle, die in meinem pochenden Schädel widerhallen. Soldaten schubsen und schieben die Menschen umher. Die Menge zerstreut sich.
»Lassen Sie die Kathedrale räumen.«
Weitere donnernde Befehle. Drei Männer traben davon. Ich lasse mich neben einer Eiche fallen. Mein Bein ist erfreulich taub. Ich wünschte, ich könnte einschlafen und Stunden später im Loft aufwachen, mit Valja an meiner Seite …
Als ich das nächste Mal hochsehe, sind die Leute verschwunden. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Dubinin steht vor mir.
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