Russisches Abendmahl
Kopf. »Okay, Alexei.« Sie steht auf und hüpft an den beiden Toten vorbei zur Tür. Greift hindurch und schnappt sich ihre Krücken. »Okay«, sagt sie noch einmal. Und dann klettert sie die beiden Stufen hoch und verschwindet.
Ich glaube nicht, dass sie zurückkommt, diesmal nicht.
Nachdem sie gegangen ist, sitze ich noch eine ganze Weile auf Kuwaldins Bett und sage mir, dass nichts für immer ist. Auch diese Wunde wird verheilen, genau wie andere. Ich merke, dass ich auf der Stelle wippe, wie lange schon, weiß ich nicht. Mit einiger Mühe schaffe ich es, mich zu beruhigen. Es ist Zeit zu gehen.
Ich hole tief Luft. Angewidert betrachte ich die Leichen auf dem Boden. Kuwaldins Zimmer ist nur einen Katzensprung vom Marienpalais entfernt, dem Sitz des Stadtrats, wo es eine ganze Armee von Polizisten gibt. Weniger als vierzig Meter weiter tobt der Verkehr. Auf der anderen Seite der Mauer, in der Isaakskathedrale, renken sich die Touristen die Hälse nach der Kuppel aus. Wohin mit den beiden?
Ich befingere das herabhängende Stück Haut an meiner Schläfe. Wasche mir mit dem abgestandenen Wasser in Kuwaldins Becken das Blut aus Gesicht und Mund. Schütte die rosa Flüssigkeit in den kleinen Garten vor der Tür, fülle die Schüssel aus einem Hahn in der Wand fünf Schritte weiter und gehe wieder hinein.
Die Bewegung tut mir gut, sie hilft mir, mein Hirn wieder in Schwung zu bringen. Ich komme zu dem Schluss, dass mich niemand mit Peter in Verbindung bringen kann. Er war weder in seiner Eigenschaft als Politiker unterwegs noch für den FSB oder irgendeinen anderen aus der Alphabetsuppe von Geheimdiensten, für die er gearbeitet haben könnte. Das Gleiche gilt für Strahow. Ich bezweifle sogar, dass sie mich hier gesucht haben. Ich glaube, dass Maxim Strahow geschickt hat, um sich Kuwaldins Quartier anzusehen, und dass Peter zufällig bei ihm war, als ich hineintappte. Sie können ruhig dort liegen bleiben, niemand wird den bald einsetzenden Aufruhr zu mir zurückverfolgen.
Die offene Kiste am Ende des Bettes ist schon mehrmals durchwühlt worden - von der Polizei, bevor ich gekommen bin von Peter, und vor allen anderen von Maxim und seinen Schergen. Es liegen Kleidungsstücke darin, eine Bibel, Hausschuhe, eine Mappe mit Notizen zu Bibeltexten, ein in Plastikfolie gewickelter halber Laib verschimmeltes Bananenbrot, ein Snickers, ein benutztes Stück Seife, eine ausgefranste Zahnbürste und eine aufgerollte Zahnpastatube. In der Ecke hat jemand geschickt ein weiteres kleineres Fach eingelassen. Das Schloss ist aufgebrochen. In dem kleinen Fach liegt eine auf ein handflächengroßes Stück Holz geklebte verblichene Ikone, das ist alles. Was immer sonst sich in der Truhe befunden haben mag, ist in opportunistischen Hosentaschen und Beweismittelschränken verschwunden.
Ich rutsche müde zu Boden, mit dem Rücken gegen die Truhe, in der Hand die Ikone. Der kupferne Geruch von Blut sticht mir in die Nase. Ich versuche mich an Lipmans genaue Worte zu erinnern, so abschweifend und drogenverhangen sie auch waren. Felix hat die Gemälde in der Kirche versteckt, hat Lipman gesagt, und meinte damit St. Isaak, das dachte ich jedenfalls. Maxim hat mit Hilfe der örtlichen Polizei sicherlich jeden Winkel der Kathedrale durchkämmt, aber nichts gefunden. Vielleicht hat Felix die Gemälde tatsächlich in einer Kirche versteckt, aber in welcher? Die Ikone brennt in meiner Hand. Als ich mir das Bild näher ansehe, überzieht mich ein kalter Schweißfilm.
Es zeigt Maria, die vor einem Engel kniet, im Moment der Verkündigung der Unbefleckten Empfängnis.
Mein Herz rast, setzt einen ganzen Schlag lang aus und pocht dann weiter.
Ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich in der Schule über die russisch-orthodoxe Kirche gelernt habe, insbesondere über die Bedeutung der Aufstellung der Bilder auf dem Ikonenstand einer Kirche. Ich erinnere mich, dass ganz links vom Altar die Mutter Maria steht und ganz rechts Jesus, und dass die zweite Ikone rechts vom Altar die Kirche bestimmt. Noch eine Verbindung tut sich auf - die Kirche im Neujungfrauenkloster ist eine Kirche der Verkündigung.
Mit den Vorderzähnen ziehe ich die Antenne aus dem Nokia. Wähle die Spezialnummer des Generals an. Er nimmt ab, ohne ein Wort zu sagen.
»Hier ist Volk«, sage ich.
Er brummt.
»Sie müssen für mich herausfinden, ob ein Mann namens Felix Kuwaldin irgendwann Anfang Juni nach Moskau gefahren ist. Wahrscheinlich mit dem Zug, aber wir
Weitere Kostenlose Bücher