Russisches Abendmahl
Sein Schnurbart ragt mir besorgt entgegen. »Brauchen Sie einen Arzt?«
»Die Kathedrale?«
Er sieht mich seltsam an. »Ist leer.«
Ich hieve mich auf die Füße. Die Welt taumelt. Dubinin packt mich am Arm. »Ich schaffe es auch allein, Hauptmann«, sage ich zu ihm.
»Zu Befehl, Herr Oberst.«
Ein Bogenlicht flammt hinter mir auf. Ich zucke wie von einer Kugel getroffen zusammen. Ich drehe mich um, sehe das abgesperrte Stück Erde, wo ein Teil vom Gehirn des Ukrainers gelandet ist, nachdem meine Kugel es durch die Öffnung im Turm befördert hat, und marschiere durch eine Reihe Soldaten hindurch in Richtung Eingang.
Die Soldaten stehen stramm, als ich durch die hoch aufragenden Türen der Smolensker Kathedrale trete. Dekorative gusseiserne Platten schmücken den Fußboden, der bei jedem Schritt, den ich mit meinen schweren Stiefeln auf die golden erstrahlende Ikonostase zugehe, metallisch nachhallt. Ich bleibe unter einem gewaltigen Kronleuchter stehen, hell wie ein Freudenfeuer schneidet das Licht rasiermessergleich durch meine Augen. Ich hole Kuwaldins Ikone aus der Manteltasche und vergleiche sie mit der, die als zweite rechts vom Altar steht. Sie stimmen überein. Als ich die Ikone zurückstecke, fließt Blut an meinem Unterarm hinunter. Eine Verletzung, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Das Gewicht der Sig in der anderen Tasche kommt mir unverhältnismäßig vor, mein ganzer Körper scheint sich zur Seite zu neigen.
Wo? Wo würde ein verängstigter, entschlossener Mann wie Kuwaldin die Bilder verstecken? Ich schleppe mich vorbei an den Gräbern von Sofia und zwei ihrer Schwestern, ohne der Antwort auch nur ein Stück näher zu kommen.
Auf mein Geheiß scheucht Dubinin einen zitternden Priester aus einer zusammengedrängten Schar von Klosterinsassen auf. Er ist kahl bis auf ein paar Büschel weißen Haares über den seltsam abstehenden Ohren, die mich an Segelohr erinnern. Es macht mich traurig, dass ich nie seinen richtigen Namen erfahren habe. Wir trotten Steinstufen hinunter in die Kellergruft. Vorbei an mit Spinnweben bedeckten Gräbern. Durch modrig riechende Gänge, die nirgendwohin führen, außer zu irgendwelchen berühmten Toten und schließlich zu einem Raum, an dessen Ende sich eine aufgebrochene Tür befindet. Dubinin schiebt sie auf und ich dränge mich hindurch.
»Bitte«, höre ich den kleinen Zwerg von hinten sagen. »In der Sakristei ist nichts.«
Dubinin bringt ihn mit einem Blick zum Schweigen.
Ein beißender Schmerz zehrt an meinem Bein. Ich lehne gegen die Wand und überfliege den mit dem üblichen religiösen Instrumentarium vollgestopften Raum. Kandelaber, mit Eselsohren versehene Lektionare, Psalmbücher, mit Gold bestickte Brokatgewänder, eine Reihe orthodoxer Kreuze, ein mattsilberner Kelch, ausrangierte Ikonen, nach denen sich Museen auf der ganzen Welt die Finger lecken würden, alte Texte. Nichts. Kein Anzeichen, dass in letzter Zeit jemand hier gewesen wäre. Keine seltsamen Kisten oder Stapel oder Geheimfächer.
Mein frustriertes Knurren lässt sowohl Dubinin als auch den runzligen Priester erschrocken zurückweichen. Der Priester zupft nervös an der speckigen Kordel um seine Hüfte, während wir die Stufen wieder hochstapfen und die Kathedrale verlassen. Um den Glockenturm wimmelt es von Soldaten, inzwischen ein grell erleuchteter Tatort, mit dem mich niemand in Verbindung bringen wird, jedenfalls nicht offiziell.
»Wo hat Sofia gelebt?«
Er sieht mich an wie einen Irren. »Sofia Alexejewna ist vor über dreihundert Jahren gestorben.«
Dubinin packt ihn am Arm. »Beantworten Sie einfach seine Frage.«
»Bei den Nonnenzellen. In welchem Zimmer genau, weiß ich nicht. Da müsste ich raten.«
»Bringen Sie mich dorthin.«
Der Priester schlurft voraus durch enge Flure und immer steilere Treppen hinauf. Die anderen warten auf mich, wenn ich auf jedem Absatz stehen bleibe, um Kraft für den nächsten zu tanken.
Endlich zieht er eine schwere Tür auf. Dubinin und ich folgen ihm in einen engen, mondhellen Raum, der leer ist bis auf ein Einzelbett mit Metallrahmen und einer barocken Kommode aus einer Zeit, als Sofia schon lange unter der Kathedrale beerdigt lag. Durch ein Spitzbogenfenster blickt man auf die Moskwa und die Kuppeln des Kreml. Steinplatten bedecken den Boden. Nirgends ist Platz genug, um ein Gemälde in der Größe von Leda und der Schwan zu verstecken.
Wir gehen zurück auf den Hof. Ich drehe mich vom hell erleuchteten Geschehen weg und wähle eine
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