Russisches Abendmahl
am Schenkel über der Prothese und reißt mein Bein zu Boden wie einen aufgespießten Schmetterlingsflügel. Verzweifelt verkrieche ich mich hinter dem schmalen Stein.
Schweiß tropft mir von Kinn und Stirn, während ich keuchend versuche, den aufsteigenden Schmerz in meinem Bein zu ignorieren. Selbst wenn der Schütze kein Profi ist, von dort oben braucht er nur den richtigen Winkel zu finden, und ich bin tot. Ich muss es bis hinter die kleine Kapelle schaffen. Vorsichtig tastend stelle ich fest, dass die Kugel nicht den Knochen getroffen hat. Meine Prothese bewegt sich, wenn mein Kopf es ihr befiehlt - die Kombination von Muskeln und Mechanismen funktioniert auch über den Schmerz hinweg. Es bringt nichts, noch länger darüber nachzudenken, also schnelle ich hoch, springe über den Stein und werfe mich gegen die Kapellenmauer. Im selben Moment pfeifen neue Schüsse durch die Luft.
Gegen die Mauer gekauert nehme ich die Situation in Augenschein. Mein Bein ist blutdurchtränkt und mein Stiefel aufgeweicht, aber ich kann mich bewegen. Dort oben ist nur ein einziger Schütze. Sollte noch jemand bei ihm im Turm sein, hat er zumindest kein Präzisionsgewehr. Ich war unvorbereitet, der Schütze hatte eine optimale Position, und trotzdem lebe ich noch. Ich werde mit ihm fertig, auch in meinem Zustand.
Zwanzig Schritte weiter rechts befindet sich die efeubedeckte Mauer eines Ausstellungsraums. Von dort aus schaffe ich es bis zu einem hölzernen Häuschen, hinter dem ich mich immerhin verstecken kann, auch wenn ich nicht sicher vor Hochgeschwindigkeitsgeschossen bin. Eine Kugel schlägt durch das Holz, Splitter fliegen mir ins Gesicht. Jeder normale Mensch, selbst ein ausgebildeter Soldat, würde hier warten und sich auf einen letzten Sprint vorbereiten. Genau das erwartet er, also tue ich das Gegenteil. Ich springe vor, rolle ein Stück weit, und hechte mit dem Kopf voran in den Schutz der hohen Mauer, wo mich die Kugeln vom Glockenturm nicht erreichen.
Vom Haupteingang höre ich stampfende Schritte. Die Männer des Generals sind da. Zusammen können wir den Turm stürmen. Im besten Fall ist der Schütze innerhalb von Minuten überwältigt. Schlimmstenfalls müssen wir eine Belagerung ausstehen, mit vorhersehbarem günstigem Ausgang. Ich will Blut sehen. Scheiß aufs Warten .
Steinstufen führen hoch zu einer Holztür, die unter dem Tritt meines Stiefels aufbricht. Todesmutig jage ich eine Treppe hinauf, ungeachtet dessen, dass der Schütze auf mich warten könnte. Hinter mir höre ich die Rufe der Soldaten im Hof. Als ich um die Ecke biege, nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Im selben Augenblick ertönt ein donnernder Schuss und neben meinem Ohr zerspringt ein Ziegel in messerscharfe Splitter. Ich werfe mich auf den Boden, wirble herum und feure in den schwefligen Nebel - Bumm! Bumm! Bumm!
Ein schwarz gekleideter Mann fliegt nach hinten weg und bricht zusammen. Mein vierter Schuss bläst seinen Schädel gegen die steinerne Mauer. Als er zu Boden gleitet, hinterlässt er eine schimmernde Blutspur an der Wand. Ich renne auf ihn zu und rolle ihn zur Seite. Mondlicht scheint durch das Fenster über uns und beleuchtet die Überreste seines Gesichts. Der Tote ist Maxims Ukrainer, der alternde Frosch. Neben ihm liegt ein Revolver. Das Gewehr muss er oben gelassen haben.
Mein verletztes Bein brennt wie Feuer. Ich setze mich auf den dreckigen Boden und strecke es aus. Ich weiß jetzt, dass Maxim im Geiste bei mir ist und mich jagt.
Plötzlich spüre ich, wie sich ein heißer Stahlring in meinen Nacken bohrt und mir das Kinn gegen die Brust drückt. Zu spät wird mir klar, dass der Ukrainer nicht der Schütze war. Er war bloß ein Komplize.
»Du Dreckskerl«, sagt Jelena Posnowa. »Es ärgert mich nur, dass ich dich nicht so lange leiden lassen kann wie du mich.«
Kein Wunder, dass die Schüsse so unkontrolliert waren. Es muss fast unmöglich für sie gewesen sein, mit ihren verstümmelten Fingern das Gewehr zu halten und gleichzeitig zu schießen. So unermesslich war ihr Hass, dass sie es nicht über sich brachte, die Waffe aus den Händen zu geben und den Ukrainer schießen zu lassen. Sie musste mich eigenhändig töten. Der Lauf gräbt sich tiefer in meinen Nacken, während sie sich auf den Rückstoß vorbereitet.
Ich knurre wütend. Sie ist vollkommen unerfahren in dieser Art zu kämpfen - und damit leichte Beute für mich. Ich stütze mich auf meine linke Hand, sodass ich nur noch den rechten Arm
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