Russisches Abendmahl
Lipman in der kleinen Seitenstraße k.o. geschlagen habe. Seine Augen sind trübe von dem Thiopentalnatrium im Infusionsschlauch, das aus einer Tüte an einem glänzenden Stahlständer tropft, dieselbe Apparatur wie die, an der in Prag Valjas Fuß hing. Seine Hand- und Fußgelenke sind an die Metallpfosten eines Bettes gefesselt, das gut in ein Krankenhaus gepasst hätte, aber das hier ist kein Krankenhaus.
Das Medikament bewirkt, dass Lipman wieder genauso pedantisch ist wie im Newa Café, als er mir die Leda zum ersten Mal beschrieb. Wir befinden uns weit entfernt am unterirdischen Ufer der Moskwa, nicht der Newa, mehrere Meter unter den Mauern des Kreml. Der General sieht und hört von einer dunklen Ecke aus zu, während Lipman, ermutigt durch die Substanzen in seiner Blutbahn - und durch die brennende Zigarette zwischen meinen Fingern -, meine einfachen Fragen mit endlosen Wortergüssen beantwortet. Hin und wieder scheint er, genau wie damals, abzuschweifen und die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verwechseln, indem er unerklärlicherweise über Das Abendmahl redet, obwohl ich ihn nach dem Verbleib von Leda und der Schwan gefragt habe.
Thiopentalnatrium unterdrückt bestimmte Gehirnfunktionen, es bringt Lipman dazu, frei herauszusprechen und weniger zu konstruieren, aber es ist kein Wahrheitsserum. Ein solches Medikament existiert nicht, obwohl es heißt, die Amerikaner experimentierten in ihren geheimen Gefängnissen mit diversen chemischen Mixturen. Die Tschetschenen haben mir mehrmals Skopolamin, eine ähnliche Substanz, gespritzt, während der Monate, als sie mich in ihren Fängen hatten. Obwohl meine Erinnerung daran verschwommen ist, weiß ich, dass mein Schweigen gebrochen wurde - ich erinnere mich, geplaudert zu haben wie eine verwirrte Babuschka. Aber genauso erinnere ich mich, dass ich versuchte, meine Verhörer in die Irre zu führen. Was immer Lipman sagt, wir werden die Fakten von der Fiktion trennen müssen.
»Ich habe zwei Jahre im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand verbracht«, plappert er weiter. »Und geholfen, Das Abendmahl zu restaurieren. Während wir Schicht für Schicht freilegten, entdeckten wir immer mehr von der Schönheit und Grazie des Originals, aber es war trotzdem nur ein Schatten dessen, was es einmal war. Das weiß ich jetzt.«
Stirn runzelnd sehe ich den General an. Lipmans Karriere ist von keinerlei Interesse für uns. Der General gibt mir zu verstehen, dass ich ihn reden lassen soll.
»Leonardo hat mit Maltechniken experimentiert«, fährt Lipman fort. »Er malte mit Öl und Tempera auf Putz. Eine alles andere als langlebige Methode. So viel ging verloren - Farbe, Nuancen, Details. Es entstanden Legenden. Thaddäus sei Leonardos Selbstportrait. Der Apostel Johannes in Wirklichkeit eine meisterhaft gemalte Maria Magdalena. Leonardo ließ Jesus Gesicht absichtlich opak. All das ist bekannt.«
Lipman verstummt. Er sitzt da mit freiem Oberkörper. Salbe glänzt auf den magentaroten Wunden, die sich über seinen Körper verteilen und langsam Eiter absondern. Ich sauge an der Zigarette und überlege, ihn weiter zu quälen. Er sieht die Glut, wendet sich von mir ab und redet weiter.
»Die großartige Gruppierung der Jünger verlieh der Szene Gleichgewicht und Spannung. Auf ganz eigene Weise dramatisiert das Arrangement den Moment, als Jesus seinen Verrat voraussagt, und unterscheidet das Bild von allen anderen Versuchen jener Zeit, dieses Ereignis zu schildern. Aber die Magie, das Erhabene, lag in der intimen Darstellung der Gesten und Gesichtsausdrücke. Leonardo unternahm intensive physiognomische Studien für die Gesichter von Jakobus, Philippus und Judas, und er engagierte Handmodelle.«
Ich laufe gelangweilt auf und ab und frage mich, warum er die ganze Zeit vom Abendmahl faselt, wo es doch um Leda geht. Der General formt seine wulstigen Lippen zu einer Art Lächeln. Offenbar weiß er, was jetzt kommt, obwohl ich keine Ahnung habe, woher. Mir ist immer noch nicht klar, worauf Lipman hinaus will.
»Das Bild fing bereits im sechzehnten Jahrhundert an zu zerbröckeln«, sagt Lipman. »Einige ältere Kopien von weniger bekannten Künstlern, die entstanden, als der Schaden an der ursprünglichen Wand noch nicht ganz so enorm war, zeigen Details, die auf dem jetzigen Wandgemälde nicht mehr erkennbar sind, und sind allein aus diesem Grund von unschätzbarem Wert.«
Er hält inne. Das Schweigen zieht sich fast eine Minute lang hin. Lipman hat die
Weitere Kostenlose Bücher