Russisches Poker
herrschte Stille. Die Titularratswitwe Kapustina, der das Haus gehörte, öffnete die verschlossene Tür mit ihrem eigenen Schlüssel und sagte aus, der Herr Möbius habe das Erdgeschoß vor zwei Wochen angemietet und für einen Monat im voraus bezahlt. Er sei ein solider und sehr gewissenhafter Mensch und habe die Gründung seiner Kanzlei in allen Zeitungen an hervorragender Stelle annonciert. Seit gestern sei er nicht mehr dagewesen, was sie schon verwundert habe.
Fandorin hörte zu, nickte, stellte ab und zu kurze Fragen. Die Beschreibung des verschwundenen Notars hieß erAnissi notieren. »Mittelgroß«, kratzte Tulpows Bleistift eifrig. »Schnurrbart, Spitzbart. Haare scheckig. Zwicker. Reibt sich ständig die Hände und kichert. Höflich. Auf der rechten Wange eine große braune Warze. Alter mindestens vierzig. Ledergaloschen. Grauer Mantel mit schwarzem Schalkragen.«
»Die G-Galoschen und den Mantel lassen Sie weg«, sagte der Hofrat nach einem Blick auf Anissis Geschreibsel. »Nur das Aussehen.«
Hinter der Tür befand sich ein ganz gewöhnliches Kontor: im Empfangszimmer ein Schreibtisch, ein Geldschrank mit angelehnter Tür, Regale mit Aktendeckeln, sämtlich leer. Im Safe auf einem Blechregal an sichtbarer Stelle eine Spielkarte, ein Pikbube. Fandorin nahm die Karte, betrachtete sie durch eine Lupe und warf sie zu Boden. Zu Anissi sagte er erklärend: »Eine Karte wie jede andere, gibt’s überall zu kaufen. Ich kann Karten nicht ausstehen, Tulpow, und den P-Pikbuben, der auch Momus genannt wird, erst recht nicht. Mit dem verbinden mich höchst unangenehme Erinnerungen.«
Vom Kontor fuhren sie ins britische Konsulat, um Lord Pitsbrook zu treffen. Der Sohn Albions hatte diesmal einen Dolmetscher bei sich, so daß Anissi die Aussagen des Geschädigten notieren konnte.
Der Brite teilte dem Hofrat mit, die Notariatskanzlei Möbius sei ihm von Mr. Speyer als die älteste und angesehenste juristische Firma Rußlands empfohlen worden. Um seine Worte zu bekräftigen, habe Mr. Speyer ein paar Zeitungen vorgewiesen, in denen für Möbius geworben wurde.Er, der Lord, könne nicht russisch, aber das Gründungsjahr der Firma – sechzehnhundert und noch was – habe ihn aufs angenehmste beeindruckt.
Pitsbrook legte eine der Zeitungen vor, die »Moskauer Gouvernementsnachrichten«, die er »Moscow News« nannte. Anissi reckte den Hals, linste Herrn Fandorin über die Schulter und erblickte eine Annonce, die eine Viertelseite einnahm:
Notariatskanzlei
MÖBIUS
Vom Ministerium der Justiz registriert
unter der Nummer 1672
Abfassung von Testamenten und Kaufurkunden,
Ausfertigung von Vollmachten,
Bürgschaften gegen Pfand,
Vertretung beim Eintreiben von Schulden
und sonstige Dienstleistungen
Sie fuhren mit dem Briten in die unglückselige Kanzlei. Er erzählte in allen Einzelheiten, wie er mit dem von dem »alten Gentleman« (dem Herrn Generalgouverneur) unterschriebenen Papier hierher in das »office« gefahren sei. Mr. Speyer sei nicht mitgekommen, da er sich nicht wohl fühlte, aber er habe versichert, der Firmeninhaber sei verständigt und erwarte den hohen ausländischen Klienten. Er, der Lord, sei in der Tat aufs liebenswürdigste empfangen worden; man habe ihm Tee nebst »harten runden Biscuits« und eine gute Zigarre angeboten und die Dokumente sehr rasch ausgefertigt. Das Geld, hunderttausend Rubel, habe der Notar in Verwahrung genommen und im Safe deponiert.
»Tja, in Verwahrung«, murmelte Fandorin, fragte etwas und zeigte auf den Geldschrank.
Der Engländer nickte, öffnete die unverschlossene Stahltür und stieß einen pfeifenden Fluch aus.
Der Lord konnte nichts Wesentliches zum Porträt des Iwan Möbius beisteuern, er erwähnte nur immer wieder die Warze. Anissi merkte sich sogar das englische Wort »wart«.
»Das ist doch ein auffälliges Kennzeichen, Euer Hochwohlgeboren, eine große braune Warze auf der rechten Wange. Vielleicht erwischen wir den Gauner damit?« sagte Anissi schüchtern. Die Worte des Generalgouverneurs »dann zerstoß ich dich zu Pulver« lagen ihm schwer auf der Seele. Er wollte sich nützlich machen.
Aber der Hofrat wußte diesen Beitrag zur Untersuchung nicht sonderlich zu schätzen.
»Unsinn, Tulpow«, sagte er zerstreut. »Eine psychologische Finte. Eine Warze oder zum Beispiel ein Muttermal über die halbe Wange nachzumachen ist nicht schwer. Zeugen merken sich gewöhnlich nur dieses auffällige K-Kennzeichen und lassen die anderen außer acht. Widmen wir uns
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