Russisches Poker
lieber dem Beschützer der minderjährigen gefallenen M-Mädchen, ›Mr. Speyer‹. Haben Sie sein Aussehen notiert? Lassen Sie mal sehen. Größe ungewiß, da er im Rollstuhl sitzt. Haare dunkelblond, an den Schläfen kurzgeschnitten. Der Blick sanft, gütig. (Hm …) Die Augen wohl hell. (Das ist wichtig, danach müssen wir den Sekretär des Generalgouverneurs fragen.) Das Gesicht offen, sympathisch. Tja, nichts Konkretes. Wir werden Seine Hoheit den Herzog von Sachsen-Limburg behelligen müssen. Hoffen wir, daß er etwasweiß von dem ›Enkel‹, den er dem ›Großvater‹ in einem Brief empfohlen hat.«
Zum Hotel »Loskutnaja« fuhr Fandorin allein, in voller Montur. Er blieb lange weg und kehrte höchst verdrossen zurück. Man hatte ihm gesagt, Seine Hoheit sei am Vorabend mit dem Warschauer Zug abgereist. Aber auf dem Brjansker Bahnhof war der hohe Passagier nicht gesehen worden.
Am Abend hielt Hofrat Fandorin mit Anissi eine Beratung ab, die er »operative Bilanz« nannte. Für Tulpow war diese Prozedur neu. Später, als er sich daran gewöhnt hatte, daß jeder Tag mit solch einer »Bilanz« endete, faßte er sich ein Herz, doch am ersten Abend schwieg er, aus Furcht, etwas Dummes zu sagen.
»Also, überlegen wir«, begann der Hofrat. »Den Notar Möbius gibt es nicht. Er hat sich in Luft aufgelöst. Erstens.« Der Nephrit-Rosenkranz klackerte. »Den Wohltäter Speyer, der kein Wohltäter und wohl auch kein Invalide ist, gibt es auch nicht. Spurlos verschwunden. Zweitens. (Klack!) Besonders p-pikant: Unbegreiflicherweise ist auch der Herzog verschwunden, der im Gegensatz zu dem ›Notar‹ und dem ›Invaliden‹ wohl echt war. Gewiß, in Deutschland gibt es regierende Fürsten in rauhen Mengen, die kann man nicht alle im Kopf behalten, aber dieser ist in Moskau in Ehren empfangen worden, und über seine Ankunft haben die Z-Zeitungen berichtet. Drittens. (Klack!) Auf dem Weg vom Bahnhof habe ich die Redaktionen der ›Woche‹ und des ›Russischen Boten‹ aufgesucht und gefragt, wie sie von dem bevorstehenden Besuch Seiner Hoheit des Herzogs vonSachsen-Limburg erfahren hätten. Die Antwort: wie üblich per Telegramm von ihren Petersburger Korrespondenten. Was halten Sie davon, Tulpow?«
Anissi, dem vor Anspannung sogleich der Schweiß ausbrach, sagte unsicher: »Die Telegramme kann ja sonstwer aufgegeben haben, Euer Hochwohlgeboren.«
»Das sehe ich auch so«, sagte der Hofrat beifällig, und Tulpow wurde sogleich leichter ums Herz. »Es genügt ja, die Namen der Petersburger Korrespondenten zu kennen, die Telegramme kann aufgeben, wer will und von wo er will … Ja, apropos. Reden Sie mich nicht mit Hochwohlgeboren an, wir sind nicht bei der Armee. Vor- und Vatersname genügt, oder … nennen Sie mich einfach ›Chef‹, das ist kurz und praktisch.« Fandorin lächelte unfroh und setzte die »Bilanz« fort. »Schauen Sie, w-was sich ergibt. Ein geschickter Halunke, der die Namen von etlichen Korrespondenten herausbekommen hat (dazu braucht er nur ein paar Zeitungen durchzublättern), verständigt die Redaktionen telegraphisch von der Ankunft eines deutschen Fürsten, und alles weitere läuft ganz von selbst. Die Reporter empfangen ›Seine Hoheit‹ auf dem Bahnhof, die Zeitung ›Russisches Denken‹ druckt ein Gespräch, in dem der Ehrengast kühne Äußerungen zur Balkanfrage macht und sich strikt vom politischen Kurs Bismarcks distanziert, Moskau ist hingerissen, und unsere Patrioten nehmen den Herzog mit offenen Armen auf. Ach, die Presse – wie wenig weiß man doch bei uns von ihrer wirklichen Macht … So, Tulpow, kommen wir nun zu den Schlußfolgerungen.«
Der Hofrat, der »Chef«, machte eine Pause, und Anissifürchtete schon, die Schlußfolgerungen solle er ziehen, dabei war sein Kopf von dichtem Nebel erfüllt.
Doch nein, Fandorin kam ohne Anissis Mitwirkung aus. Er ging energisch im Arbeitszimmer auf und ab, ließ die Nephritperlen klackern, verschränkte dann die Hände hinterm Rücken.
»Die Zusammensetzung der Bande ›Pikbube‹ kennen wir nicht. Es sind mindestens drei Personen: ›Speyer‹, ›Notar‹ und ›Herzog‹. Erstens. Sie sind im höchsten Maße dreist, erfindungsreich, unglaublich selbstsicher. Z-Zweitens. Sie hinterlassen keine Spuren. Drittens.« Fandorin schwieg kurz und schloß dann leise, sogar schmeichelnd: »Aber ein paar Anhaltspunkte gibt es. Viertens.«
»Tatsächlich?« fragte Anissi hastig, der schon einen anderen Schluß befürchtet hatte:
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