Russisches Requiem
hundert Meter weiter hinten, schwer keuchend, die Augen zum letzten Mal zum Himmel erhoben, eine dicke, schon halb eingetrocknete Blutkruste auf der Brust, wo es von dem Maschinengewehr getroffen worden war. Er blieb stehen und lauschte, aber er hörte nur die Krähe, die über dem Gaul kreiste und ihre Artgenossen zum Festmahl rief.
Behutsam suchte er bei jedem Schritt festen Grund, ehe er auftrat. Er vernahm das Knacken der Halme unter den Füßen, aber sonst nichts. Das Gewehr des Polen hing noch am Sattel des sterbenden Pferdes, doch der Mann hatte bestimmt eine Pistole. Hatten nicht alle Offiziere eine Pistole? Wie konnten sie sonst die eigenen Leute erschießen?
Er blieb stehen und verlagerte das Gewicht, um sich langsam nach links zu drehen. Er hatte etwas gehört, ganz nah. Mit silbernem Schimmern beschrieb das Bajonett am Gewehr einen Bogen durch die Luft. Wieder ein Geräusch, und er vergewisserte sich, dass die Waffe entsichert war. Er überlegte noch, ob er einen Schuss abfeuern sollte, um ein Loch in den Weizen zu schlagen, falls irgendwo khakifarbener Stoff aufblitzte, doch da sprang der Pole bereits auf, zuerst der Säbel, dann der Arm, die Mütze, die Augen, die schiefen grauen Zähne und der fauchende Mund, die Epauletten, das dunkel glänzende Koppel, die funkelnden Knöpfe der Uniformjacke - all das stürzte hervor und direkt in das Bajonett, das er mit Wucht nach vorn gestoßen hatte. Direkt über der Gürtelschnalle drang die Spitze ein und schnitt durch Tuch und Haut, als wären sie aus Papier. Das Gewehr wand sich in seiner Hand, als die Klinge nacheinander gegen zwei Rippen stieß, dann bohrte sie sich in die Lunge und wurde von einer weiteren Rippe abgelenkt, ehe sie auf der anderen Seite wieder ans Tageslicht kam. Trotzdem sauste der Säbel noch auf ihn herab, und instinktiv drückte er auf den Abzug, einmal, zweimal. Die Kugeln schleuderten den Mann vom Ende des Gewehrs, und ein erstaunter Ausdruck erschien in seinen bereits toten Augen.
Zitternd stand Koroljow da, zäh fließendes Blut am Bajonett, und lauschte seinen eigenen Schreien. »Na, na. Still jetzt. Sie machen der Kleinen Angst.« Die Stimme war tief und ruhig.
Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber die Lider schienen aneinanderzukleben und wollten sich nur mühsam lösen. Das einfallende Licht war so grell, dass er die Augen gleich wieder schloss, so fest wie nur möglich, weil er ein vertrautes, schmerzhaftes Bohren in der Stirn spürte. Dann riss er sie weit auf.
Eine Brille starrte auf ihn herab. »Gehirnerschütterung. Ja, in der Tat. Eine Gehirnerschütterung.«
»Wird er wieder heil?«, fragte eine Mädchenstimme. Sie klang jung, eher neugierig als besorgt. Er war erleichtert darüber, dass sie sich nicht ängstlich anhörte.
»Natürlich. Schau ihn dir doch an. Stark wie ein Ross. Er ist bald wieder auf den Beinen.« Die Brille funkelte anerkennend. »Er braucht ein bisschen Ruhe, eine Mütze Schlaf und ein wenig Pflege. Aber er wird bestimmt wieder heil. Keine Sorge junge Dame.«
Koroljow blinzelte. Er war in Moskau, in der neuen Wohnung. Der polnische Offizier blieb in der Vergangenheit zurück wie all die anderen schlechten Erinnerungen aus dieser Zeit. Er schluckte mit trockenem Mund, und jemand setzte ihm ein Glas an die Lippen. Er fühlte, wie das Wasser seine Zunge umspülte, ehe es ihm durch die Kehle rann.
»Na also. Siehst du, es geht ihm gar nicht so schlecht. Wie viele Finger, Genosse?« Der Mann mit Brille hielt drei Finger hoch.
»Drei.« Koroljows Stimme klang gebrochen und alt. Er hatte keine Kraft mehr für schlaue Witze.
»Gut. Trotzdem brauchen Sie einen Tag Ruhe.«
»Geht nicht.« Koroljow hörte sein eigenes Lallen.
»Natürlich geht das. Das wäre doch gelacht. Semjon Semjonowitsch?«
»Mindestens einen Tag. Wir müssen unsere besten Arbeiter schützen. Das kommt direkt vom Zentralkomitee.«
Er erkannte Popows Stimme, konnte ihn aber nicht sehen - der Mann mit der Brille war so nah, dass er alles andere verdeckte. »Na, was sagen Sie jetzt?«
Am Aufflackern des Schmerzes merkte Koroljow, dass er die Stirn gerunzelt hatte. Wenn er sich nicht täuschte, lag er auf einem Sofa im Gemeinschaftszimmer. Mühsam stemmte er sich auf einen Ellbogen und dann mit Hilfe des Brillenträgers in eine sitzende Haltung. Er ließ den Kopf hängen und konzentrierte sich auf die pendelnden Dielen zu seinen Füßen, bis sie sich beruhigt hatten und der Drang, seinen Magen ganz zu leeren, abgeflaut war.
Weitere Kostenlose Bücher