Russisches Requiem
aber als reine Zeitverschwendung beurteilt. Letztlich war Tesaks Identität die einzige brauchbare Information, die der Bericht enthielt.
Der General blickte auf die erste Seite des dürftigen Dokuments. »Kolja hatte also nichts zu sagen. Aber interessant, dass er sich mit Ihnen getroffen hat.« Popow ließ seine Bemerkung eine Weile im Raum hängen. »Und wie geht es jetzt mit den Ermittlungen weiter?«
»Wir werden alles daransetzen, das Mädchen und den Wagen aufzuspüren. Außerdem halten wir Ausschau nach weiteren Zeugen. Brusilow arbeitet die Komsomol-Zelle durch. Ein paar bekannte Kumpane von Tesak können wir uns auch vorknöpfen. Vielleicht haben wir Glück, vielleicht auch nicht. Andererseits kann es natürlich sein, dass die Staatssicherheit den Fall ganz übernimmt.«
»Hoffen wir es«, erwiderte Popow. »Die Vermisstenanzeige ist auf den Revieren verteilt worden, möglicherweise bekommen wir da einen Hinweis.«
Sie schauten sich düster an.
»Anscheinend stecken wir in einer Sackgasse«, konstatierte Popow.
»Möglicherweise nicht das Schlechteste. Immerhin wissen wir ja, dass noch eine andere Untersuchung läuft.« Koroljow war klar, dass sie nun beide für ein Mikrofon sprachen.
»Ganz Ihrer Meinung. Heute Abend können wir auf jeden Fall nichts mehr machen. Gehen Sie nach Hause.«
Koroljow erhob sich von seinem Stuhl und sank wieder zurück, als plötzlich seine Beine nachgaben. Die Umrisse des Zimmers wirkten auf einmal verschwommen, und er musste mehrmals schlucken, um gegen seine Übelkeit anzukämpfen. Er hatte das Gefühl, alle Kraft seines Körpers wäre durch seine Füße entwichen. »Entschuldigung«, murmelte er matt.
»Was ist denn mit Ihnen, Alexei Dimitrijewitsch? Alles in Ordnung?«
»Ich brauche nur einen Augenblick, Genosse General. Verzeihen Sie.« Er spürte Popows Hand auf der Schulter, und mit einiger Anstrengung gelang es ihm, sich auf den Tisch zu konzentrieren, während alles andere im Zimmer um ihn herum schwankte. Dann war es, als würde ihm Popows starker Griff einen Halt bieten, der es ihm ermöglichte, sich zusammenzureißen. »Danke«, flüsterte er nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam. »Jetzt fühle ich mich schon etwas besser.« Während er das sagte, wurde ihm klar, dass der General mit ihm gesprochen hatte. Aber er hatte kein Wort gehört.
»Können Sie stehen?«, fragte Popow.
Koroljow stützte die Hände auf den Schreibtisch und stemmte sich hoch.
»Gut.« Popow klopfte ihm auf den Rücken. »Aber es ist wohl besser, wenn ich Sie heimfahre. Sie sehen aus wie eine zwei Tage alte Leiche.«
Koroljow wollte Einwände erheben, doch als ihm einfiel, wie er in einer Straßenbahn um einen Platz zum Atmen hätte kämpfen müssen, überlegte er es sich anders. »Macht Ihnen das auch keine Umstände, General Popow?«
»Natürlich nicht. Sie liegen auf dem Weg. Holen Sie Ihre Sachen, wir treffen uns am Haupteingang. Kommen Sie bis dort allein zurecht?«
»Ja, Genosse General.« Koroljow freute sich auf das warme Automobil.
Fünf Minuten später öffnete Koroljow die Tür von Popows ZIS und schob sich auf den Beifahrersitz.
Der General lächelte ihm zu, als sie abfuhren. »Vielleicht wird das Büro abgehört, vielleicht auch nicht. Aber in meinem Telefon ist seit drei Tagen so ein Zischen, das vorher nicht da war.«
»Verstehe. Doch das muss natürlich nichts heißen.«
»Sicher, aber morgen Abend findet wieder eine Parteiversammlung statt.«
»Ich dachte, die war schon heute.«
»Ja, aber bei der morgen geht es ausdrücklich um die fehlende Wachsamkeit und möglicherweise konterrevolutionäre Nachlässigkeit der Parteizelle. Als führender Aktivist muss ich mich an der notwendigen Selbstkritik beteiligen.«
Das Profil des Generals verriet keinerlei Emotionen, und er sprach in nüchternem Tonfall. Aber Koroljow wusste, wie diese Veranstaltungen meistens abliefen. Es war, als würde ein Bär von vielen Hunden in Stücke gerissen. Von allen Seiten hagelte es Fragen von einer unglaublichen Aggressivität, und die Antworten interessierten eigentlich niemanden. Wenn man sich einen Hund vom Hals geschafft hatte, griffen zwei weitere an einer anderen Stelle an. Und die Menge feuerte sie an, in dem Wissen, dass jeder, der sich zurückhielt, als Nächster auf dem Stuhl sitzen konnte.
»Ich werde meine Fehler zugeben und an die Nachsicht der Partei appellieren. Vielleicht schlage ich sogar vor, mir aufgrund meiner Verfehlungen andere Aufgaben
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