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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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mysteriösem Tod geäußert. Als hätte Gregorin jedes Interesse an der Angelegenheit verloren. Das konnte Koroljow nur recht sein, denn der Oberst hätte bestimmt Lunte gerochen, wenn er auch nur den Mund geöffnet hätte. Wenn Gregorin weiter so gleichgültig blieb, konnte Koroljow das Ganze und vor allem die Ikone vergessen.
    Natürlich war es enttäuschend, einen ungelösten Fall einfach so aufzugeben, doch seltsamerweise stellte er fest, dass er vor sich hin summte, als er mit seinen Morgenübungen begann. Vielleicht war es also doch nicht so schlimm für ihn.
    Auf der Straße regte sich der erste Verkehr, als er seine letzte Dehnung absolviert hatte und die Schnürsenkel seiner abgeschabten, aber immer noch robusten Sommerschuhe band. Mit ein wenig Glück hielten sie noch ein Jahr, und im Haus konnte er sie noch länger tragen. Trotzdem musste er sich bald auf die Suche nach einem neuen Paar machen. Schon seit Monaten sah er in den normalen Läden keine Schuhe mehr, was allerdings nicht heißen musste, dass es keine gab. Es bedeutete nur, dass es ihn Zeit und Mühe kosten würde, ein passendes Paar für sich aufzutreiben. Und was seine Filzstiefel anging ... Nun, vielleicht musste er seine Kollegen fragen, wie man sich Lederstiefel beschaffte. Offensichtlich gab es Mittel und Wege, auch wenn sie vielleicht nicht ganz ehrlich waren. Aber dann musste er eben ausnahmsweise seinen Stolz hinunterschlucken, um mit trockenen Füßen durch den Winter zu kommen.
    Als Babel eintraf, um ihn abzuholen, war es Koroljow peinlich, dass ihn Walentina Nikolajewna gerade lautstark aufforderte, einen Schal ihres verstorbenen Gatten zu tragen, den er für überflüssig hielt.
    »Isaak Emmanuilowitsch«, mahnte sie ohne Rücksicht auf Koroljows angeschlagenen Stolz, »behalten Sie den armen Hauptmann heute gut im Auge. Ich weiß, wie es bei diesen Fußballspielen zugeht. Er soll sich bloß auf keine Streitereien mit Fabrikarbeitern einlassen. Und den Schal darf er auf keinen Fall abnehmen.«
    »Ich kann gut auf mich selbst aufpassen«, knurrte Koroljow gereizt.
    In Babels Augen funkelte der Schalk. »Keine Sorge, Walentina Nikolajewna, es wird mir ein Vergnügen sein, den Genossen Hauptmann genauestens zu beobachten.« Mit einem leisen Lächeln verneigte er sich vor Koroljow. »Soll ich Ihnen auf dem Weg hinunter den Arm reichen, Genosse Koroljow?«
    »Der Teufel soll Sie holen, ich komme allein zurecht. Und grinsen Sie nicht so unverschämt, Sie armseliger Schmierfink!«
    »Sehen Sie, wie missmutig ihn die Verletzung gemacht hat, Walentina Nikolajewna? Aber ich verzeihe ihm.« Babel setzte eine unschuldige Miene auf. »Ich bringe Sie nach unten, Alexei Dimitrijewitsch. Und vergessen Sie den Schal nicht.«
    »Mistkerl«, knirschte Koroljow und fügte hinzu, als er die hochgezogene Braue seiner Mitbewohnerin bemerkte: »Verzeihen Sie meine Ungezogenheit, Walentina Nikolajewna. Aber sein Benehmen ist wirklich anmaßend.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, hätte er sie am liebsten wieder geschluckt.
    »Anmaßend, ach?« Ihre Antwort fuhr ihm entgegen wie ein Degen. In den scharfen blauen Augen spiegelte sich mutwillige Verwirrung.
    Er hatte das Gefühl, sich in einem Netz verfangen zu haben. »Ach, zum Henker damit! Anscheinend werde ich den ganzen Tag nur aufgezogen.«
    Dann stapfte er zur Tür, soweit das mit Filzstiefeln überhaupt möglich war, und empfand fast ein wenig Enttäuschung, als ihm die Klinke keinen Widerstand entgegensetzte. »Auf Wiedersehen, Walentina Nikolajewna.« Mannhaft ignorierte er die verdächtig nach Lachen klingenden Laute aus der Küche.
    Draußen wartete schon Semjonow auf sie, und sie beschlossen, zu Fuß zu gehen. Es war ein sonniger Tag, und die frische Luft tat gut nach dem Regen und Schnee der letzten Zeit. Sie kamen nur langsam voran, da Babel mit allen möglichen Leuten ein paar Worte wechselte: mit Stadtstreichern, Kioskverkäufern,  Milizionären, Schwarzmarkthändlern, aber auch mit Schauspielerinnen und Parteifunktionären. Koroljow nutzte die Gelegenheit, um Semjonow nach der Betriebsversammlung zu fragen.
    »Alles ist gut gelaufen. Ich selbst habe mich dazu bekannt, dass mir nichts an der Haltung des früheren Kriminalermittlers Mendelejew aufgefallen ist. Man gelangte zu dem Schluss, dass die fehlende Wachsamkeit ein kollektives Versagen war.«
    »Aber Sie kannten Eisenfaust doch kaum.«
    »Deswegen war es auch kein großes Risiko für mich«, räumte Semjonow mit leisem Lächeln

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