Russisches Requiem
ein.
Koroljow hatte dem jungen Kollegen den Arm um die Schulter gelegt, und es fühlte sich ganz natürlich an. Allerdings war sein Verhältnis zu ihm nicht mehr ganz so väterlich, wie es ihm noch vor einigen Tagen erschienen war. Zum Beispiel war es ihm ein Rätsel, wie sich Semjonow Zugang zum Komitee verschafft hatte. Er beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Natürlich war er mit den blauen Augen und dem goldenen Haar wie geschaffen für diese Rolle. Doch es lag nicht nur am Aussehen. Keine Frage, der Bursche war gewitzt, und wenn es hart auf hart ging, konnte man sich auf ihn verlassen. Angesichts seiner geringen Erfahrung war es geradezu erstaunlich, welche Souveränität er zuweilen an den Tag legte.
Das Metropol hatte in den vergangenen Tagen nichts von seiner opulenten Pracht eingebüßt. Sicherlich mussten auch Ausländer von dieser lebendigen Verkörperung des großen sozialistischen Traums beeindruckt sein. Ein Traum, der allen offenstand, im Gegensatz zu den Verhältnissen in kapitalistischen Ländern, wo vermutlich ein Lakai mit einer Peitsche warten und Männer wie ihn mit einem roten Striemen auf dem Rücken als Souvenir fortjagen würde. Voller Stolz wandte er sich zu Semjonow und Babel um, doch er wurde enttäuscht. Der Schriftsteller klopfte lustlos mit einer Zigarette auf ein Emailetui und wirkte weniger belebt als auf der ganzen Strecke hierher. Semjonow schien sich wenigstens für die Schwimmerinnen im Becken zu interessieren, allerdings wohl eher aus fleischlichen als aus ästhetischen Gründen. Bei Babel konnte er diese Gleichgültigkeit noch begreifen, immerhin fuhr der Schriftsteller offenbar fast jeden zweiten Monat nach Paris, doch Semjonow versetzte ihn wieder einmal in Erstaunen. Vielleicht war er schon einmal mit der Freundin hier gewesen, die Herzegowina Flor rauchte.
Schwartz saß im Restaurant und studierte die
Iswestija
mit der Miene eines Mannes, der sich amüsierte, statt sich politisch zu bilden. Als Koroljow herantrat, erhob er sich und versteckte die Zeitung mit schuldbewusster Miene hinter dem Rücken.
»Schön, Sie zu sehen, Genosse Hauptmann. Ein herrlicher Tag für eine Sportveranstaltung.« Um dem Anlass gerecht zu werden, trug er einen schwarzen Pullover unter einem kurzen blauen Mantel mit hochgestelltem Kragen, doch die graue Hose war so exakt geschnitten, als stammte sie aus einem Schneidereimuseum. Schwer zu sagen, wie die Spartak-Anhänger auf so eine Bügelfalte reagieren würden. Vergnügt deutete Schwartz auf eine Schirmmütze auf dem Tisch. »Sogar eine Kopfbedeckung habe ich mir besorgt. Meinen Sie, das geht so?«
Koroljow fragte sich, wo er sie herhatte. Aus einem Devisenladen wahrscheinlich. »Eine gute Mütze. Praktisch und auch warm. Sie werden sie brauchen, es ist ganz schön frisch draußen.« Koroljow verzichtete darauf, hinzuzufügen, dass er sie sich auch recht gut auf seinem eigenen Kopf vorstellen konnte.
Schwartz lächelte dankbar. Dann beugte er sich mit ernstem Gesicht vor und senkte die Stimme. »Und der Fall? Machen Sie Fortschritte?«
»Ich arbeite nicht mehr daran.« Koroljow zeigte auf den Stirnverband. »Ich musste mir ein paar Tage freinehmen, also hat jemand anders die Ermittlungen übernommen. Aber ich habe eine gute Nachricht für Sie. Wir haben das Opfer identifiziert, und es ist nicht Ihre Bekannte. Trotzdem, wenn sie sich mit Ihnen in Verbindung setzt, geben Sie mir bitte Bescheid. Vielleicht verfügt sie über nützliche Informationen.« Er merkte, dass er nicht besonders überzeugend klang. Wenn die Tschekisten eine amerikanische Nonne in die Finger bekamen, die sich mit einem falschen Pass in Moskau herumtrieb, würde ihre ursprüngliche Intourist-Reise durch eine ausführlichen Sibirienbesuch verlängert werden. Dann fiel ihm etwas anderes auf. Schwartz hatte sich weder erleichtert noch überrascht gezeigt. Er nahm die Mitteilung lediglich mit einem knappen Nicken zur Kenntnis. War ihm die Frau aus dem Zug auf einmal gleichgültig?
»Wenn sie was von sich hören lässt, werde ich ihr auf jeden Fall raten, sich bei Ihnen zu melden«, erwiderte Schwartz im behutsamen Ton eines Diplomaten. »Und unsere Unterhaltung von neulich?«
»Bleibt natürlich unter uns.« Koroljow staunte, wie leicht ihm die Lüge über die Lippen kam. Vorsichtig vergewisserte er sich, dass Babel und Semjonow außer Hörweite waren. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich das Gespräch gern fortsetzen, nachdem ich jetzt weiß, um welche Ikone es
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