Russisches Requiem
alles abzustreiten, doch dann schaute sie ihm ruhig in die Augen. »Wie geht es Jack?«
»Er hätte Ihnen bestimmt Grüße bestellt, wenn er gewusst hätte, dass wir uns treffen. Eine Zeit lang dachten wir, dass Sie die heilige Schwester sind, die in der Kirche an der Rasin-Straße gestorben ist. Er war erfreut zu hören, dass es nicht so ist.«
Sie schrumpfte zusammen und wirkte jetzt unglaublich klein neben Koljas wuchtiger Gestalt. »Können Sie mir sagen, was mit ihr geschehen ist?« Ihre hellblauen Augen richteten sich auf ihn. »Ich weiß nur, dass sie tot ist. Kolja meint, es ist besser, wenn ich nicht mehr erfahre.«
Koroljow schaute den Grafen an, der die Achseln zuckte.
»Sie wurde zu Tode gefoltert, Schwester.« Koroljow fand, dass sie wissen sollte, worauf sie sich da eingelassen hatte. »Es gibt angenehmere Todesarten. Und den Kerl, der das getan hat, würde ich wirklich gern fassen.«
»Ich verstehe.« Mit der rechten Hand schlug sie das Kreuzzeichen. »Gott sei ihrer Seele gnädig.«
»Und einer von Koljas Männern wurde ebenfalls gefoltert und ermordet, wahrscheinlich von denselben Leuten.«
»Ja, er hat mir gesagt, dass auch andere ihr Leben verloren haben.« Sie schien fast teilnahmslos, vielleicht war sie auch nur schicksalsergeben.
»Auch ein Kollege von mir ist gestorben - bei einem Autounfall, der wohl keiner war. Und dann hätten wir noch einen toten Tschekisten: Major Mironow. Alles in allem eine eindrucksvolle Spur, die Ihnen durch Moskau folgt.«
»Sie folgt nicht mir. Sie sind nicht hinter mir her.«
Kolja lehnte sich vor. »Hören Sie, Alexei Dimitrijewitsch, wenn wir nicht damit einverstanden wären, wären Sie gar nicht hier. Dieser Moischepimpf Goldstein weiß genau, wo die Sonne untergeht und dass er keinen Aufgang mehr erleben würde, wenn er mich verpfeift. Wir können also wie Freunde miteinander reden.«
Koroljow atmete tief ein. Vielleicht hatte er sich wirklich ein wenig aggressiv benommen. Und falls Kolja tatsächlich aus der Tasche mit einer Waffe auf ihn zielte, war das wahrscheinlich nicht das Schlauste. »Ist sie hier? Die Ikone? Sie sollten wissen, dass sie Ihnen dicht auf den Fersen sind. Der Fall wurde uns entzogen, das ist kein gutes Zeichen.«
»Sie ist in Sicherheit.« Kolja zögerte unmerklich. »Aber wenn Sie den Fall nicht mehr bearbeiten, Koroljow, was zum Teufel treiben Sie dann überhaupt hier?«
»Ich will die Sache abschließen, ihr endlich auf den Grund gehen. Wir sollten uns damit abfinden, dass wir alle im selben Boot sitzen.«
Kolja widersprach ihm nicht, sondern deutete mit einer knappen Kopfbewegung an, dass er die Fragen erwartete.
Koroljow redete nicht lange um den heißen Brei herum. »Haben Sie den Tschekisten Mironow umgebracht?«
»Nein, in diesem Punkt habe ich ein reines Gewissen.«
»Gott sei seiner Seele gnädig«, flüsterte die Nonne.
»Aber er war irgendwie in die Sache verwickelt, richtig? Ich kann mir denken, dass sein Tod mit der Ikone zu tun hat, aber wie genau? Anscheinend wurde er ja nicht von denselben Leuten ermordet wie die anderen Opfer.«
»Major Mironow war gläubig«, erwiderte die Nonne mit leiser Stimme. Kolja schaute sie überrascht an, unterbrach sie aber nicht. »Er hat die Ikone im Namen der Kirche an sich genommen. Seine Mörder sind die gleichen wie bei den anderen. Vielleicht nicht dieselben Personen, aber dieselbe Gruppe.«
»Vom NKWD?«
»Ja, aber sie handeln nicht aus Liebe zu Stalin«, warf Kolja ein. »Gregorin und seine Komplizen handeln auf eigene Rechnung.«
»Weshalb sind Sie so sicher, dass es Gregorin ist?« Koroljow war erschüttert, obwohl sich damit sein Verdacht bestätigt hatte.
»Genosse Gregorin steht Jagoda nahe, und als dieser Jeschow das Ruder übernommen hat, hat er die Zeichen der Zeit erkannt. Dann fällt ihm plötzlich die Ikone in den Schoß. Einer von den Burschen, die bei der Durchsuchung erwischt wurden, hat wohl geredet, und Gregorin konnte sein Glück gar nicht fassen. Er hat Erkundigungen angestellt und herausgefunden, was sie wert ist - das war seine Fahrkarte in den Westen. Mironow hat in der Auslandsabteilung gearbeitet, und Gregorin hat bei ihm angeklopft, um sich auf möglichst sichere Weise absetzen zu können. Major Mironow hat ihm nicht geglaubt, also hat ihn Gregorin ins Lager geführt, und da war sie: die Kasanskaja. Mironow hat sich bereiterklärt, die Ausreisevisa zu besorgen - gegen Beteiligung. Ursprünglich wollte Gregorin an die Kirche verkaufen, und
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