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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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Lärm. Die wenigen Gespräche wurden vom Rumpeln eines Lastwagens übertönt. Es war, als würden die Bürger spüren, dass man sie belauschte, und Koroljow hatte den Verdacht, dass sie damit nicht ganz Unrecht hatten.
    Als er um eine Ecke bog, bemerkte Koroljow zwei Männer mit dem seltsam trippelnden Gang, mit dem sie sich als Angehörige der Banditenkaste zu erkennen gaben. Auch sie erkannten ihn als Vertreter seines Berufs, blieben aber ungerührt mit Ausnahme einer knappen Bemerkung, die der eine dem anderen im Vorbeigehen zuflüsterte. Von allen Menschen, denen er heute Abend begegnet war, wirkten nur diese beiden entspannt. Bei Kriminellen folgte die Partei dem Prinzip der Umerziehung, daher mussten Vandalen und Ganoven statt mit langjährigen Haftstrafen vor allem mit politischen Belehrungen rechnen. Dabei hegte Koroljow als Polizist kaum einen Zweifel daran, dass die Banditen ihre Ausbildung in der »Zone«, wie das Lager- und Gefängnissystem hieß, ausschließlich von anderen Banditen erhielten. Die verordnete Milde gegenüber Berufsverbrechern war demnach nicht unbedingt dazu angetan, die sowjetischen Städte sicherer zu gestalten.
    Bei politischen Gefangenen sah die Sache natürlich völlig anders aus: Sie bekamen die volle Härte des Gesetzes zu spüren.
    Heute Abend jedoch schien alles ruhig, vielleicht wegen der Temperaturen, die auf jeden Fall schon unter dem Gefrierpunkt lagen. Er hob den Blick zum dunklen Himmel über den Straßenlaternen, um vielleicht zu erkennen, ob Schnee zu erwarten war. Als er in die Lubjanka bog, spähte er vorsichtig in alle Richtungen. Es war mehr aus Gewohnheit als aus Angst vor einer echten Gefahr, denn jeder halbwegs vernünftige Kriminelle machte natürlich einen weiten Bogen um die Straße, in der sich das Hauptquartier des NKWD befand. Umso überraschter war er, als er vor der Metrostation Dserschinskaja parkende schwarze Wagen und eine aufgeregt wogende Menschenmenge entdeckte.
    Je näher er kam, desto seltsamer mutete ihn das Verhalten der mehreren Hundert Menschen an, die den Eingang der Haltestelle belagerten. Vielleicht ein terroristischer Angriff oder ein Unfall? Er beschleunigte seinen Schritt und vergewisserte sich für den Fall drohender Ausschreitungen mit einer kurzen Berührung, dass seine Pistole im Halfter steckte. Doch die Leute waren offenbar guter Laune und jubelten sogar, während sie vor- und zurückdrängten. Tschekisten und Rotarmisten mit fahl schimmernden Gesichtern bildeten einen Kordon, um die wachsende Anzahl von Bürgern von dem Konvoi schwarzer Fahrzeuge fernzuhalten, der vor dem großen erleuchteten M der Metrostation parkte. Es hatte den Anschein, als könnte der Kordon jederzeit gesprengt werden, doch trotz der mittlerweile wohl fast tausend Leute, die winkten und rote Taschentücher schwenkten, hatte Koroljow das Gefühl, dass alles unter Kontrolle war.
    Plötzlich wurden die Rufe schwächer, als sich die blinkende Tür einer Limousine öffnete und ein vertrautes Gesicht, pockennarbig und geschmückt mit einem breiten Schnurrbart, auftauchte und die Szenerie aus schwarzen Augen musterte. Es war ein machtvoller Blick, selbstsicher wie der eines Meisterboxers, und unwillkürlich hob auch Koroljow die Faust zum Gruß. Er fiel in die lauten Beifallsbekundungen ein, und seine Nackenhaare bebten, als das Tosen immer lauter wurde.
    »Stalin! Stalin! Stalin!«, skandierte die Menge, und Koroljow brüllte mit. Stämmige Tschekisten scharten sich um den Generalsekretär, doch sie wirkten klein neben ihm, als hätte sich die Welt an seine Dimensionen angepasst. Dabei war er nicht besonders groß, vielleicht einen Meter sechzig. Es war einfach seine Präsenz. Wieder rief Koroljow Stalins Namen, als der große Politiker mit nach oben geringelten Schnurrbartenden der Menge zulächelte. Mit knapper Geste berührte er seine Militärmütze, wie um zu sagen: Ihr jubelt nicht mir zu, sondern nur meiner Position in der Partei, und allein unter dieser Voraussetzung bin ich bereit, eure Huldigungen entgegenzunehmen.
    Ein Leibwächter flüsterte Stalin etwas ins Ohr, und der Generalsekretär nickte zustimmend, ehe er nach einem letzten Lächeln in der Metrostation verschwand. Nun stiegen weitere Männer aus den Wagen: Jeschow, Molotow, Budjonny mit seinem gezwirbelten Kavalleristenschnurrbart, Ordschonikidse, Mikojan. Offenkundig hatte das halbe Politbüro beschlossen, mit der Metro nach Hause zu fahren. Sie lächelten verschwommen hinter den Kragen ihrer

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